Ruf mich bei Deinem Namen
Kopf. Oder mit ihm ins Geschäft – der Chef sei um diese Zeit wahrscheinlich schon weg. Ich schüttelte wieder den Kopf. Bist du schüchtern? Ich nickte.
Er hielt noch immer meine Hand, drückte sie, drückte meine Schultern, rieb mir den Nacken, mit einem gönnerhaft versöhnlichen Lächeln, als könne er nicht klein
beigeben, auch wenn er eigentlich schon keine Hoffnung mehr hatte. Warum denn nicht?, fragte er immer wieder. Ich hätte ohne weiteres … ich habe es nicht getan.
»Ich habe so viele abblitzen lassen, bin nie jemandem nachgelaufen.«
»Mir bist du nachgelaufen.«
»Du hast es zugelassen.«
Via Frattina, Via Borgognona, Via Condotti, Via delle Carrozze, della Croce, Via Vittoria. Plötzlich liebte ich sie alle. Kurz vor der Buchhandlung sagte Oliver, ich solle schon
vorausgehen, er müsse rasch noch ein Ortsgespräch führen. Er hätte vom Hotel aus telefonieren können, aber vielleicht war es vertraulich. Ich ging weiter, kaufte unterwegs
noch Zigaretten, und als ich vor der Buchhandlung mit der großen Glastür und zwei römischen Gipsbüsten auf pseudo-antiken Sockeln stand, wurde ich plötzlich nervös.
Durch die dicke Scheibe in dem schmalen Bronzerahmen sah ich ein Gewühl erwachsener Menschen, die irgendwelche Häppchen – vielleicht Petits Fours – verspeisten.
Jemand winkte mir. Ich schüttelte den Kopf und deutete mit einem zögernden Zeigefinger an, dass ich auf jemanden wartete, der gleich hier aufkreuzen würde. Aber der Besitzer oder
sein Mitarbeiter, eine Art Klubmanager, stieß mit ausgestrecktem Arm die Tür auf und bedeutete mir mit einer fast herrischen Geste, hereinzukommen. »Venga, su,
venga!« , sagte er, die Hemdsärmel verwegen bis zu den Schultern hochgekrempelt. Die Lesung hatte noch nicht angefangen, aber die Buchhandlung war brechend voll, alle rauchten,
schwatzten laut und blätterten in neuen Büchern, kleine Plastikbecher in der Hand, in denen Scotch zu sein schien. Selbst die Galerie, auf deren Geländer ich die nackten Ellbogen und
Unterarme von Frauen sah, war überfüllt. Ich erkannte den Autor auf den ersten Blick. Es war der Mann, der Marzia und mir seinen Gedichtband Se
l’amore signiert hatte. Er schüttelte Hände.
Als er an mir vorbeikam, streckte auch ich ihm die Hand hin und sagte, wie sehr mir seine Gedichte gefallen hätten. Wie hatte ich seine Gedichte lesen können, obgleich das Buch noch
gar nicht auf dem Markt war? Jemand anders hatte die Frage gehört. Würden sie mich jetzt wie einen Betrüger an die frische Luft setzen?
»Ich habe es vor ein paar Wochen in der Buchhandlung in B. gekauft, und Sie waren so freundlich, es zu signieren.«
Er erinnere sich an den Abend, sagte er. »Un vero fan« , sagte er laut, damit die Umstehenden es hören konnten. Alle drehten sich um. »Fan
wäre vielleicht zu viel gesagt. In seinem Alter nennt man das Groupie«, ergänzte eine ältere Frau, die mit ihrem Kropf und grellfarbiger Kleidung wie ein Tukan aussah.
»Welches Gedicht hat dir am besten gefallen?«
»Alfredo, du benimmst dich wie ein Lehrer bei der mündlichen Prüfung«, stichelte eine Frau um die dreißig.
»Ich will ja nur wissen, welches Gedicht ihm am besten gefallen hat. Das wird man doch noch fragen dürfen«, jammerte er in gespielter Verzweiflung.
Ich dachte schon, die Frau, die sich für mich in die Bresche geworfen hatte, hätte mich gerettet, aber ich hatte mich zu früh gefreut.
»Also heraus damit. Welches?«
»Das, in dem das Leben mit San Clemente verglichen wird.«
»Das, in dem die Liebe mit San Clemente verglichen wird«, verbesserte er, als wäge er die Tiefgründigkeit der beiden Aussagen gegeneinander
ab. »Das San-Clemente-Syndrom.« Er sah mich scharf an. »Und warum?«
»Jetzt lass doch den armen Jungen in Ruhe«, fuhr eine andere Frau dazwischen, die gehört hatte, was meine erste Verteidigerin gesagt hatte. »Komm, ich bringe dich dahin,
wo’s was zu essen gibt, damit du von diesem Monster mit den Riesenfüßen wegkommst. Sein Ego ist so groß wie seine Füße – hast du seine Quadratlatschen
gesehen? Alfredo, du solltest wirklich etwas wegen deiner Schuhe unternehmen«, rief sie ihm quer durch die überfüllte Buchhandlung zu.
»Was hast du gegen meine Schuhe?«, fragte der Dichter.
»Sie. Sind. Zu. Groß.« Sie wandte sich an mich. »Findest du nicht auch? Dichter dürften keine derart großen Füße haben.«
»Lass meine Füße in Ruhe.«
Ein anderer Gast erbarmte sich des Dichters.
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