Ruf mich bei Deinem Namen
Dichters, bis er sich sein Essen ausgesucht hätte, säßen wir in einer Stunde noch hier, und
dann wäre die Küche geschlossen. Die Bedienung ratterte eine lange Liste von Antipasti herunter, die, kaum bestellt, schon auf dem Tisch standen, danach Brot, Wein, Mineralwasser, frizzante und naturale. Einfache Kost, wie sie sagte. Kann gar nicht einfach genug sein, bekräftigte der Verleger. »Wir
schreiben dieses Jahr wieder rote Zahlen.«
Und noch einmal ein Toast auf den Dichter. Auf den Verleger. Den Buchhändler. Die Frau, die Töchter – auf wen noch?
Gelächter und gute Gemeinschaft. Ada hielt eine kurze improvisierte Rede – na ja, nicht richtig improvisiert, räumte sie ein. Falstaff und der Tukan gestanden, dass sie ihr
dabei unter die Arme gegriffen hatten.
Eine halbe Stunde später kamen die Tortellini in Sahnesauce. Ich hatte beschlossen, auf Wein zu verzichten, denn die rasch hintereinander gekippten Whiskies entfalteten erst jetzt ihre
volle Wirkung. Wir hatten die drei Schwestern zwischen uns, es ging eng zu auf unserer Bank. Himmlisch.
Zweiter Gang, viel später: Schmorbraten, Erbsen, Salat.
Dann Käse.
Eins führte zum anderen, das Gespräch kam auf Bangkok. »Sie sind keine Asiaten, keine Weißen, und der Begriff Eurasier ist zu simpel. Sie sind exotisch im reinsten Sinne
des Wortes und trotzdem nicht fremdartig. Wir erkennen sie sofort, auch wenn wir sie noch nie gesehen und keine Worte für das haben, was sie mit uns machen oder scheinbar von uns
wollen«, sagte der Dichter.
»Zuerst glaubte ich, dass sie anders denken. Dann habe ich begriffen, dass sie anders empfinden. Dann, dass sie so unglaublich liebenswert sind, wie man sich das hier überhaupt nicht
vorstellen kann. Gewiss, wir können gütig sein, fürsorglich und sehr herzlich in unserer mediterranen Art, aber sie sind selbstlos lieb – ohne einen Hauch von
Bosheit – lieb wie Kinder, ohne jede Ironie, jede Scham. Ich habe mich meiner Gefühle für sie geschämt … Es könnte das Paradies sein, genau so, wie ich es mir
in meinen Wunschträumen vorgestellt hatte. Der vierundzwanzigjährige Nachtportier in meiner Bruchbude von Hotel, der eine Mütze ohne Schirm trägt und Typen jeder Art hat kommen
und gehen sehen, starrt mich an, und ich starre zurück. Er hat die Gesichtszüge eines Mädchens – eines Mädchens, das wie ein Junge aussieht. Das Mädchen am
American Express-Schalter starrt mich an, und ich starre zurück. Sie sieht aus wie ein Junge, der wie ein Mädchen aussieht und deshalb nur ein Junge sein kann. Die Jüngeren,
Männer und Frauen, kichern ständig, wenn ich sie ansehe. Selbst die junge Frau auf dem Konsulat, die fließendes Milanese spricht, und die Studenten, die jeden Morgen zur gleichen
Zeit auf den gleichen Bus warten, um uns aufzureißen, starren mich an und ich starre zurück und frage mich, ob die Summe all dieser Blicke das ergibt, was ich vermute. Denn wenn es um
die Sinne geht, sprechen – ob es uns gefällt oder nicht – alle Menschen die gleiche animalische Sprache.«
Eine zweite Runde Grappa und Sambuca.
»Ich wollte mit ganz Thailand schlafen. Und ganz Thailand wollte etwas mit mir anfangen.«
»Komm, trink einen Schluck von diesem Grappa und sag mir, dass es kein Hexenwerk ist«, fuhr der Buchhändler dazwischen. Der Dichter ließ sich von der Bedienung noch ein
Glas einschenken. Diesmal trank er ihn langsam, Schluck für Schluck. Falstaff goss ihn in einem Zug herunter. Straordinario-fantastico schluckte ihn grummelnd.
Oliver schmatzte genießerisch. Da wird man wieder jung, meinte der Dichter. »Ich trinke abends gern einen Grappa, er gibt Kraft. Aber du …« – jetzt sah er mich
an – »... verstehst das nicht. Gott weiß, dass du eine solche Kräftigung in deinem Alter nicht nötig hast.«
Er wartete, bis ich das Glas halb geleert hatte.
»Spürst du sie?«
»Wen?«
»Die Kraft.«
Ich trank noch einen Schluck. »Eigentlich nicht.«
»Eigentlich nicht«, wiederholte er ratlos und enttäuscht.
»Eben«, bestätigte jemand. »Deine ›Kräftigung‹ wirkt nur bei denen, die da Defizite haben.«
»In Bangkok«, fuhr der Dichter fort, »ist es nicht schwer, an solche Kraftquellen zu kommen. Einmal, in einer warmen Nacht, war ich in meinem Hotelzimmer drauf und dran, den
Verstand zu verlieren. War es die Einsamkeit, war es das Geräusch von Menschen draußen auf der Straße oder ein Werk des Teufels – jedenfalls dachte ich da unvermittelt
an San
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