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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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University ausgerechnet über die Vorsokratiker lehrte,
konnten sich weder Pavel noch die übrigen Anwesenden begeistern. Ich hatte mir sein Foto länger als nötig angesehen und erleichtert festgestellt, dass sich in mir nichts regte.
    Im Rückblick steht für mich fest, dass zwischen Oliver und mir alles während der Weihnachtsferien in diesem Zimmer angefangen hat.
    »Bin ich auch so ausgesucht worden?«, fragte er mit dieser ernsthaft verlegenen Naivität, die meine Mutter immer so entwaffnend fand.
    »Ich wollte, dass du es wirst«, sagte ich abends zu Oliver, als ich ihm half, seine Sachen im Wagen zu verstauen. Manfredi wartete schon ungeduldig darauf, ihn zum Bahnhof zu fahren.
»Ich habe dafür gesorgt, dass sie dich nehmen.«
    Abends kramte ich im Schrank meines Vaters, fand die Akte mit den letztjährigen Bewerbern, fand sein Foto. Mit dem offenen Hemd – dem Flatterhemd – und den langen
Haaren hatte er etwas von einem Filmstar, den gegen seinen Willen die Kamera eines Paparazzo festgehalten hat. Kein Wunder, dass ich mich kaum davon hatte trennen können. Leider habe ich das,
was mich an jenem Nachmittag vor genau einem Jahr bewegte, nicht mehr deutlicher in Erinnerung – diese Aufwallung von Lust und unmittelbar danach ihr wirkungsvollster Dämpfer, die
Furcht. Der wirkliche Oliver, die verschiedenen Olivers, die jeden Tag eine andersfarbige Badehose trugen, der Oliver, der nackt im Bett lag oder sich in unserem Hotel in Rom aufs das Fensterbrett
stützte – sie alle hatten sich vor das unruhig verschwommene Bild geschoben, das ich mir nach dem ersten Blick auf sein Foto gemacht hatte.
    Ich sah mir die anderen Bewerber an. Der da war nicht so übel. Wie wäre mein Leben wohl verlaufen, wenn statt Oliver einer der anderen gekommen wäre? Ich wäre nicht nach Rom
gefahren. Aber vielleicht an einen anderen Ort. Hätte nichts über San Clemente erfahren, vielleicht aber über andere Dinge, die mir nun womöglich für immer entgangen waren.
Hätte mich nicht verändert, wäre nie der geworden, der ich heute bin.
    Und wer ist dieser andere heute? Ist er glücklicher? Ich würde gern ein paar Stunden, ein paar Tage in seinem Leben verbringen – nicht nur um auszuprobieren, ob dieses
andere Leben besser ist oder um zu ermessen, wie unterschiedlich sich unsere Schicksale wegen Oliver gestaltet hatten, sondern auch um zu überlegen, was ich heute zu diesem anderen Ich sagen
würde. Wären wir uns sympathisch, würden wir verstehen, warum der andere so wurde, wie er ist, würde es uns überraschen zu erfahren, dass wir beide einen
Oliver – Mann oder Frau – getroffen hatten, dass wir aber im Wesentlichen, ungeachtet der Begegnung jenes Sommers, dieselben Menschen geblieben waren.
    Es war meine Mutter, die Pavel nicht ausstehen konnte und meinen Vater gezwungen hätte, jeden abzulehnen, den Pavel empfahl, die schließlich Schicksal spielte. Wir nennen uns zwar
»diskrete Juden«, hatte sie gesagt, aber noch ein Antisemit kommt mir nicht ins Haus.
    Auch diese Feststellung würde für mich immer untrennbar mit jenem Foto verbunden sein. Dann ist er also auch Jude, hatte ich gedacht.
    Und dann machte ich das, was ich mir schon den ganzen Abend vorgenommen hatte: Ich tat so, als wüsste ich nicht, wer dieser Oliver war. Weihnachten letzten Jahres. Pavel versuchte uns immer
noch zu überreden, seinen Freund zu nehmen. Der Sommer war noch nicht gewesen. Oliver würde wahrscheinlich mit dem Taxi kommen. Ich würde sein Gepäck ins Haus tragen, ihn auf
sein Zimmer bringen, mit ihm über den Klippensteig zum Strand hinuntergehen und ihm dann, wenn die Zeit es erlaubte, das Grundstück bis zum alten Haltepunkt der Bahn zeigen und etwas
über die Zigeuner sagen, die in den Waggons mit dem Wappen des Königlichen Hauses Savoyen hausten. Wochen später würden wir, wenn wir Zeit hatten, mit dem Fahrrad nach B.
fahren, würden unterwegs anhalten, um etwas zu trinken. Ich würde ihm die Buchhandlung zeigen. Und Monets Malplatz. All das war noch nicht geschehen.
    Im Sommer erfuhren wir von seiner Heirat. Wir schickten Geschenke, und ich schrieb ein paar Zeilen dazu. Der Sommer kam und ging. Es hätte mich oft gereizt, ihm von seinem
»Nachfolger« zu berichten und allerlei über meinen neuen Balkonnachbarn zu fabulieren, aber ich tat es nie. Einen einzigen Brief schickte ich ihm im Jahr darauf mit der Mitteilung,
dass Vimini gestorben sei. Er schrieb an uns alle, wie Leid es ihm tat. Damals war er

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