Ruf mich bei Deinem Namen
mir zurückgegeben. Damals war ich fünfzehn. Aber ich hätte nicht nein gesagt.
Irgendwann hatte ich gesprächsweise meinen Lieblingsplatz in den Bergen erwähnt.
Ich hatte, bis Oliver die Karte mitgenommen hatte, nie mehr an ihn gedacht.
Nach dem Abendessen sah ich meinen Vater an seinem Frühstücksplatz sitzen. Er hatte den Stuhl zum Meer gedreht und die Fahnen seines neuesten Buches im Schoß. Er trank den
üblichen Kamillentee und freute sich an der Nacht. Neben ihm standen drei dicke Zitronellakerzen. Die Mücken meinten es an jenem Abend besonders gut. Ich ging zu ihm. Wir saßen
häufig um diese Zeit zusammen, und im letzten Monat hatte ich ihn vernachlässigt.
»Erzähl mir von Rom«, sagte er, als ich mich neben ihn setzte. Um diese Zeit gönnte er sich immer die letzte Zigarette des Tages. Mit einem müden Schlenker, als wollte
er sagen Jetzt kommt der angenehmere Teil des Abend, legte er sein Manuskript weg und zündete die Zigarette an einer Kerze an. »Nun?«
Es gab nichts zu berichten. Ich wiederholte, was ich meiner Mutter erzählt hatte – Hotel, Capitol, Villa Borghese, San Clemente, Restaurants.
»Gut gegessen?«
Ich nickte.
»Gut getrunken?«
Ich nickte wieder.
»Sachen gemacht, die dein Großvater gebilligt hätte?« Ich lachte. Nein, diesmal nicht. Ich erzählte ihm von dem Vorfall am Pasquino. »Sich vor einer sprechenden
Statue zu übergeben – das muss man sich mal vorstellen …«
»Filme? Konzerte?«
Mir dämmerte, dass er, vielleicht ohne sich selbst Rechenschaft darüber abzulegen, auf etwas Bestimmtes hinauswollte. Ich merkte es daran, dass ich, während er weiter Fragen
stellte, die sich auf Umwegen dem Thema näherten, schon auf Ausweichmanöver sann, noch ehe das auftauchte, was uns hinter der nächsten Ecke erwartete. Ich sprach von den ewig
schmutzigen, verwahrlosten römischen Piazze von Rom. Von der Hitze, dem Wetter, dem Verkehr. Zu viele Nonnen. Die Soundso-Kirche geschlossen. Müll, wohin man sah. Schlampige
Renovierungen. Beklagte mich über die Einheimischen und die Touristen, über die Minibusse, die zahllose mit Kameras und Baseballmützen bewehrte Horden aus- und wieder einluden.
»Habt ihr den einen oder anderen der privaten Innenhöfe besichtigt, von denen ich euch erzählt habe?«
Nein, das hatten wir wohl versäumt.
»Dem Denkmal für Giordano Bruno eure Aufwartung gemacht?«
Allerdings. Um ein Haar hätte ich auch dort gespuckt.
Wir lachten.
Eine winzige Pause. Ein Zug aus seiner Zigarette.
Jetzt.
»Ihr zwei habt euch richtig schön angefreundet.«
Damit hatte er sich sehr viel weiter vorgewagt, als ich erwartet hatte.
»Ja.« Ich ließ mein Ja in der Luft hängen und hoffte, er würde das ungeduldig ablehnende »Ja und?« das dahinterstand, nicht heraushören.
Oder aber die Gelegenheit nützen, um mich, wie so oft, zu rügen, weil ich mich seiner Meinung nach zu schroff oder kritisch Menschen gegenüber benahm, die gute Gründe hatten,
sich für meine Freunde zu halten. Vielleicht würde er dann wie üblich besänftigend anfügen, wie selten eine gute Freundschaft sei und dass die meisten Menschen, selbst wenn
sie auf die Dauer anstrengend seien, nur das Beste wollten und jeder etwas Positives zu vermitteln hatte. Niemand ist eine Insel, du kannst dich nicht ständig abschotten, Menschen brauchen
Menschen blablabla.
Aber es kam anders!
»Du bist zu klug, um nicht zu wissen, dass eure Beziehung etwas ganz Seltenes, Besonderes war.«
»Oliver war Oliver«, stellte ich fest, als sei damit alles gesagt.
»Parce que c’était lui, parce que c’était moi« , zitierte mein Vater Montaignes allumfassende Erklärung für seine
Freundschaft mit Etienne de la Boétie.
Ich aber dachte an das, was Emily Brontë gesagt hatte: »Weil er mehr ich ist als ich selbst es sein könnte.«
»Oliver mag sehr intelligent sein …«, setzte ich an. Meine Stimme hatte sich gehoben und implizierte ein kritisches »aber«. Alles war recht, um meinen Vater von
dieser Spur abzubringen.
»Intelligent? Er war mehr als das. Was zwischen euch war, hat alles und nichts mit Intelligenz zu tun. Er ist ein anständiger Mensch, und es war ein großes Glück für
euch, dass ihr euch gefunden habt, denn du bist es auch.«
So hatte mein Vater noch nie über das Thema gesprochen. Es entwaffnete mich.
»Ich glaube, er war besser als ich, Papa.«
»Bestimmt würde er dasselbe über dich sagen, und das spricht für euch beide.«
Als er sich, um die Asche
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