Ruf mich bei Deinem Namen
von seiner Zigarette zu klopfen, zum Aschenbecher beugte, berührte er meine Hand.
»Was vor dir liegt, wird sehr schwer sein«, sagte er mit veränderter Stimme. Wir brauchen nicht darüber zu sprechen, hieß das, aber wir wollen doch nicht so tun, als wüssten wir nicht, wovon ich rede .
Mich abstrakt auszudrücken würde die einzige Möglichkeit sein, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Es wird dich einholen. Das hoffe ich zumindest. Und zwar dann, wenn du es am wenigsten erwartest. Die Natur ist schlau, wenn es darum geht, unseren schwächsten Punkt zu finden. Denk
daran: Ich bin da. Vielleicht hättest du dir gewünscht, nichts dabei zu spüren, vielleicht wirst du über diese Dinge nicht mit mir sprechen wollen. Aber gespürt hast du
etwas.«
Ich sah ihn an. Jetzt war der Augenblick gekommen, ihn zu belügen und zu beteuern, er sei total auf dem Holzweg. Ich machte schon den Mund auf, aber er kam mir zuvor.
»Ihr hattet eine wunderbare Freundschaft. Vielleicht mehr als Freundschaft. Und ich beneide dich. Die meisten Eltern würden hoffen, dass es vorübergeht, oder beten, dass ihre
Söhne möglichst bald wieder festen Boden unter den Füßen bekommen. Aber ich denke da anders. Wenn der Schmerz kommt, pflege ihn, und wenn eine Flamme brennt, lösche sie
nicht, sei nicht brutal zu ihr. Entzug kann schrecklich sein, wenn er uns nachts wachhält, und zu erleben, dass andere uns schneller vergessen, als uns lieb sein kann, ist nicht besser. Wir
reißen so viel mit Stumpf und Stiel aus unserer Seele, um nur ja ganz schnell wieder gesund zu werden, dass wir bis dreißig bankrott sind und bei jedem Neuanfang weniger zu bieten
haben. Aber nichts zu fühlen, um nichts fühlen zu müssen – welche Vergeudung!«
Ich kam kaum mehr mit. Es hatte mir die Sprache verschlagen.
»Habe ich mir zu viel herausgenommen?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann lass mich noch eins sagen, damit alles klar ist. Ich war vielleicht nah dran, aber habe nie das erfahren, was du erfahren hast. Irgendetwas hielt mich immer zurück oder stand im
Wege. Dein Leben ist deine Sache. Aber denk daran, dass uns Körper und Seele nur einmal geschenkt werden. Die meisten Menschen müssen sich wohl oder übel so benehmen, als
führten sie zwei Leben, eins die Kopie, das andere das Original. Gar nicht zu reden von den vielen Zwischenformen. Aber es gibt nur das eine, und unversehens ist die Seele müde geworden,
und irgendwann kommt der Moment, in dem niemand mehr deinen Körper anschauen geschweige denn ihm näherkommen mag. Im Augenblick hast du Kummer. Natürlich sind Schmerzen nichts
Beneidenswertes, aber dich beneide ich darum.«
Er holte tief Luft.
»Vielleicht werden wir das Thema nie wieder berühren, aber du wirst es mir hoffentlich nicht nachtragen, dass wir es heute getan haben. Ich wäre ein schlechter Vater, wenn du
eines Tages mit mir darüber würdest sprechen wollen und feststellen müsstest, dass die Tür geschlossen oder nicht weit genug geöffnet ist.«
Ich hätte ihn gern gefragt, woher er es wusste. Aber wie hätte er es nicht wissen sollen? Es war schließlich nicht zu übersehen. »Weiß Mutter Bescheid?«,
fragte ich. Hat sie einen Verdacht, hatte ich sagen wollen, mich aber rasch eines Besseren besonnen. »Ich glaube nicht«, sagte er und ließ darin
anklingen: Und selbst wenn sie es wüsste, würde sie es bestimmt nicht anders sehen als ich .
Wir sagten einander Gutenacht. Auf dem Weg nach oben schwor ich mir, ihn nach seinem Leben zu fragen. Von den Frauen in seiner Jugend hatten wir alle gehört, aber von etwas anderem hatte
ich nie auch nur eine Ahnung gehabt.
War mein Vater ein anderer? Und – wer war dann ich?
Oliver hielt Wort. Kurz vor Weihnachten kam er und blieb bis Neujahr. Zuerst machte ihm der Jetlag sehr zu schaffen. Er braucht Zeit, dachte ich, aber das galt auch für mich. Er war viel
mit meinen Eltern zusammen und mit Vimini, die selig war, dass sich offenbar zwischen ihnen nichts geändert hatte. Ich bekam schon Angst, wir könnten auf den Zustand unserer ersten Tage
zurückfallen, als wir uns tunlichst aus dem Weg gegangen waren und unsere Gespräche sich in höflichen Nichtigkeiten erschöpft hatten. Warum hatten seine Anrufe mich nicht darauf
vorbereitet? War ich schuld an dieser neuen Stimmung? Hatten meine Eltern etwas gesagt? War er meinetwegen gekommen? Oder meinen Eltern zuliebe, weil er das Haus wiedersehen wollte, weil er
Tapetenwechsel brauchte? Der wahre Grund war
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