Ruge Eugen
wieder. Auch aßen sie keine Schildkrötensuppe mehr.
Dann war endlich Silvester. Die Männer des Dorfes hatten tagelang und unter großem Geschrei Kaffee verladen. Jetzt hatte man ihnen ihren Lohn ausgezahlt. Gegen drei Uhr waren alle betrunken und gegen sechs bewusstlos. Es wurde still im Dorf. Nichts rührte sich, niemand war zu sehen. Wie jeden Abend hatten Charlotte und Wilhelm sich ein kleines Feuer gemacht, von dem Holz, das der mozo ihnen für ein paar Pesos sammelte.
Es wurde früh dunkel, die Abende waren lang.
Wilhelm rauchte.
Das Feuer knisterte.
Charlotte tat so, als interessiere sie sich für die Fledermäuse, die lautlos wie Sternschnuppen im Schein des Feuers vorbeihuschten.
Um zwölf Uhr tranken sie Champagner aus Wassergläsern, und jeder aß seine Weinbeeren auf: ein hiesiger Brauch, zum Jahreswechsel zwölf Weinbeeren zu essen. Zwölf Wünsche – einer für jeden Monat.
Wilhelm aß alle Beeren auf einmal.
Charlotte wünschte sich zuallererst, dass Werner am Leben sei. Dafür verbrauchte sie gleich drei Beeren. Kurt lebte, von ihm hatte sie inzwischen Post. Er war, aus Gründen, die er im Brief nicht erwähnte, irgendwo im Ural gelandet, inzwischen verheiratet dort. Nur von Werner – nichts. Trotz der Bemühungen Dretzkys. Trotz der Suchanfrage beim Roten Kreuz. Trotz der Anträge, die sie beim sowjetischen Konsulat gestellt hatte – den ersten schon vor sechs Jahren:
– Bewahren Sie Ruhe, Bürgerin. Alles geht seinen Gang.
– Genosse, ich bin Mitglied der Kommunistischen Partei, und das Einzige, worum ich bitte, ist zu erfahren, ob mein Sohn lebt.
– Dass Sie Mitglied der Kommunistischen Partei sind, heißt nicht, dass Sie Sonderrechte genießen.
Das Schweinsgesicht. Erschießen sollen sie dich. Da hatte sie die Beere zerbissen.
Dann schon lieber Ewert und Radovan: je eine Beere.
Eine Beere, um die Strafe in Typhus umzuwandeln. In heilbaren Typhus. Eine, um die Typhusepidemie auf Ewerts Frau Inge auszudehnen, die neuerdings Chefredakteur war.
Auf einmal waren es nur noch drei Beeren. Jetzt hieß es haushalten.
Die zehnte: Gesundheit für all ihre Freunde – wer war das?
Die elfte: für alle Verschollenen. Wie jedes Jahr.
Und die zwölfte Beere … zerbiss sie einfach. Ohne sich etwas zu wünschen. Plötzlich war es geschehen.
Im Übrigen war es zwecklos. Fünf Mal schon hatte sie sich gewünscht, dass sie im kommenden Jahr nach Deutschland zurückkehrten. Genützt hatte es nichts, sie saßen immer noch hier.
Sie saßen hier – während drüben, im neuen Staat, die Posten verteilt wurden.
Zwei Tage später flogen sie zurück nach Mexiko-Stadt. Am Mittwoch war Redaktionssitzung, wie immer. Wilhelm war zwar aus der Leitung der Gruppe abgewählt, hatte aber seine bisherigen Funktionen bei der Demokratischen Post behalten: Er machte die Abrechnung, verwaltete die Kasse, half beim Umbruch und bei der Verteilung der auf ein paar hundert Exemplare geschrumpften Auflage.
Aber auch Charlotte fühlte sich zur Teilnahme verpflichtet. Die Redaktionssitzung war einmal die Woche, und man wusste nicht recht, ob sie nicht gleichzeitig auch Parteiversammlung war. Je kleiner die Gruppe wurde, desto mehr vermischte sich alles: Parteizelle, Redaktionskomitee, Geschäftsführung.
Sieben waren noch übrig. Drei davon waren die «Leitung». Das heißt: zwei – seit Wilhelm abgewählt worden war.
Charlotte hatte Mühe, die Sitzung durchzuhalten, saß gekrümmt am Ende des Tisches und war kaum in der Lage, Radovan in die Augen zu schauen. Inge Ewert redete dummes Zeug, kannte nicht mal die Breite des Satzspiegels, verwechselte Kolumne und Signatur, aber Charlotte unterdrückte jeden Impuls, sich einzumischen oder einen Vorschlag zu machen, und in dem Artikel, den man ihr zum Korrekturlesen gab, übersah sie absichtlich Druckfehler, damit die Genossen in Berlin auch wahrnahmen, auf welches Niveau die Zeitschrift gesunken war, seit man sie als Chefredakteur abgelöst hatte.
Wegen «Verstoßes gegen die Parteidisziplin». Sodass Charlotte keinen anderen Weg gesehen hatte, als ihrerseits einen Bericht an Dretzky zu schicken. Ihr «Verstoß gegen die Parteidisziplin» hatte nämlich hauptsächlich darin bestanden, dass sie am 8. März, am Frauentag, eine Würdigung des neuen Gleichberechtigungsgesetzes der DDR gebracht hatte, obwohl der Vorschlag mehrheitlich als «uninteressant» abgelehnt worden war. Das war der eigentliche Skandal.
Sie fügte hinzu, dass Ewert in der Friedensfrage
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