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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Charlotte blickte über die tote Stadt hinweg auf die weite, hüglige Landschaft, die sich Tal von Mexiko nannte, obwohl sie in Wirklichkeit zweitausend Meter hoch lag, und glaubte plötzlich, dass sie in der Lage sei, den ganzen Dreck hinzuschmeißen .
    Stattdessen: einmal im Leben die Königin der Nacht blühen sehen.
    Aber als sie an diesem Abend nach Hause kam und Wilhelm neben dem Hund auf dem Fußboden sitzen sah, wusste sie, dass es unmöglich war.
    Und davon abgesehen: Würde sie je ihre Söhne wiedersehen, wenn sie in Mexiko blieb?
    Und davon abgesehen: Hatte sie wirklich vor, den Rest ihres Lebens Kinder reicher Leute zu unterrichten? Oder die Hausangestellten eines verwitweten Universitätsprofessors zu kommandieren?
    Und davon abgesehen: mit neunundvierzig!
     
    Im April kam ein Brief von Dretzky, komischerweise datiert auf den ersten April. Wie sie dem Briefkopf entnahm, war Dretzky inzwischen Staatssekretär im Bildungsministerium. Er ging mit keiner Silbe auf Charlottes Bericht ein. Vielmehr teilte er mit, dass zwei Einreisevisa im sowjetischen Konsulat für sie bereitlägen, und bat sie, umgehend die Rückreise anzutreten, um für ihre neuen Aufgaben zur Verfügung zu stehen: Charlotte sollte als Direktorin das Institut für Literatur und Sprachen an der demnächst zu gründenden Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft übernehmen, und Wilhelm, welcher, wie Dretzky schrieb, als sogenannter Westemigrant nicht, wie es sein Wunsch gewesen wäre, in den neuen Geheimdienst übernommen werden durfte – Wilhelm sollte Verwaltungsdirektor der Akademie werden.
    An diesem Abend gingen sie durch den Almeda-Park, ließen sich im Strom der Menschen treiben. Von fern tönte eine Mariachi-Kapelle herüber, und sie aßen Tortillas mit Kürbisblüten wie früher.
    Aber es war nicht wie früher.
    Drei berittene Polizisten bewegten sich langsam, wie in Zeitlupe, durch die Menge. Alle hatten große, schwere Sombreros auf, so groß und schwer, dass sie sie eher balancierten als trugen, was den drei Reitern ein würdiges und zugleich lächerliches Aussehen gab. Die Repräsentanten der Staatsmacht, die ihnen vor zwölf Jahren das Leben gerettet hatte … Abwegige Idee: dass alles bloß ein Aprilscherz war. Aber war es nicht auch abwegig, dachte Charlotte, dass Dretzky Wilhelm zum Verwaltungsdirektor einer Akademie machen wollte? Wilhelm hatte nicht die geringste Ahnung von Verwaltung. Wilhelm hatte, im Grunde genommen, von nichts eine Ahnung. Wilhelm war Schlosser, sonst gar nichts.
    Zwar war er tatsächlich einmal – auf dem Papier – Co-Direktor der Lüddecke & Co. Import Export gewesen. Aber erstens hatte er dies – aufgrund einer lebenslänglichen Geheimhaltungsverpflichtung – nicht einmal in seinem von der Partei verlangten Lebenslauf angegeben. Und zweitens war Lüddecke Import Export nicht mehr als eine von den Russen finanzierte Scheinfirma gewesen, die dem Geheimdienst der KOMINTERN zum Schmuggel von Menschen und Material diente.
    In Mexiko hatte Wilhelm ewig gebraucht, um eine Arbeit zu finden, und was er schließlich fand, war eine – wenngleich gutbezahlte – Anstellung als Leibwächter eines Diamantenhändlers, die, abgesehen davon, dass es gegen Wilhelms proletarische Ehre verstieß, Leben und Eigentum eines Millionärs zu bewachen, vor allem deswegen deprimierend war, weil Wilhelm stets das Gefühl hatte, dass er für seine Dummheit bezahlt wurde. Mendel Eder hatte ihn angestellt, nicht obwohl, sondern weil er kein Spanisch sprach und es dem Händler durchaus gelegen kam, wenn ein Taubstummer neben ihm saß, während er seine Verhandlungen führte.
    Erst spät, als die meisten Exilanten schon wieder in Deutschland waren, hatte Wilhelm begonnen, für die Demokratische Post zu arbeiten, aber auch wenn er in seinem Lebenslauf «Geschäftsführer der Demokratischen Post» als letzte Arbeitsstelle angegeben (und die Anstellung bei Eder zu «Frachtdienst Firma Eder» herunterstilisiert) hatte, musste Dretzky doch wissen, dass die Erstellung der Spendenabrechnung für die Demokratische Post nicht im Entferntesten mit der Verwaltung einer ganzen Akademie zu vergleichen war.
    – Dann bin ich jetzt ja gewissermaßen dein Vorgesetzter, sagte Wilhelm und klopfte eine Zigarette aus seiner Schachtel.
    – Wohl kaum, sagte Charlotte.
    Was ging in diesem Kopf vor?
     
    Schon mehrmals war ihnen die Rückkehr in Aussicht gestellt worden, aber immer war am Ende etwas dazwischengekommen. Zuerst war es am

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