Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
Vom Netzwerk:
Durchreisevisum für die USA gescheitert. Dann war kein Geld mehr in der Reisekasse, weil andere Genossen wichtiger gewesen waren. Dann behauptete das sowjetische Konsulat, dass keine Papiere für sie vorlägen. Und schließlich hieß es, sie hätten die Erlaubnis zur Einreise wiederholt nicht genutzt, sodass sie sich nun gedulden müssten.
    Aber dieses Mal schien es anders zu laufen. Tatsächlich wurden ihnen auf dem Konsulat Einreisevisa ausgehändigt. Sie bekamen eine direkte Schiffspassage, sogar mit Rabatt. Obendrein wurde Wilhelms Billett (warum ausgerechnet Wilhelms?) aus der Parteikasse erstattet – obgleich sie inzwischen genug Geld gehabt hätten, um die Überfahrt selbst zu bezahlen.
    Charlotte begann sich um die Auflösung des Haushalts zu kümmern, kündigte Verträge und verkaufte die Königin der Nacht mit Verlust zurück an den Blumenladen. Es war erstaunlich viel zu erledigen, und erst jetzt merkte sie, wie sehr sie in das hiesige Leben verstrickt war; jedes Buch, dessen Mitnahme sie erwog, jede Muschel, jedes Figürchen, das sie vorsichtig in Zeitungspapier wickelte oder wegzuwerfen sich entschloss – alles war mit Erinnerungen an ein Stück Leben verbunden, das nun zu Ende ging. Aber gleichzeitig, während sie alles und jedes auf seine Brauchbarkeit im neuen Leben prüfte, begann auch ein Bild dieses neuen Lebens in ihr zu entstehen.
    Sie erwarben fünf große Schrankkoffer, setzten einen Teil ihres kleinen Vermögens in Silberschmuck um und kauften von dem Rest verschiedene Dinge, von denen sie annahmen, dass sie im Nachkriegsdeutschland schwer zu bekommen waren, so beispielsweise eine Schweizer Reiseschreibmaschine (allerdings ohne «ß»), zwei Garnituren ausgesprochen praktischen Hartplastikgeschirrs, einen Toaster, zahlreiche Baumwolldecken mit indianischen Mustern, fünfzig Dosen des ebenfalls sehr praktischen Nescafés, fünfhundert Zigaretten, außerdem in reichlichem Umfang Kleidung, von der sie glaubten, dass sie sowohl dem Klima als auch ihrem neuen gesellschaftlichen Status entsprach. Statt heller, luftiger Sommersachen probierte Charlotte nun hochgeschlossene Blusen und dezente Kostüme in verschiedenen Grautönen an; sie ließ sich eine Dauerwelle machen und besorgte sich eine schlichte, aber elegante Brille, deren schmales schwarzes Gestell ihrem Gesicht eine glaubwürdige Strenge verlieh, wenn sie vor dem Spiegel den Blick einer Institutsdirektorin probierte.
    So, zwar in alter Kleidung, aber mit neuer Brille und neuer Frisur, traf sie sich noch einmal, ein letztes Mal, mit Adrian. Sie gingen, wie schon oft, in ein kleines Restaurant in Tacubaya, dessen einziger Nachteil darin bestand, dass das sowjetische Konsulat in der Nähe war. Adrian bestellte zwei Gläser Weißwein und chiles en nogada, und noch bevor das Essen kam, fragte er Charlotte, ob sie wisse, dass man Slánský zum Tode verurteilt habe.
    – Warum sagst du das, wollte sie wissen.
    Anstatt zu antworten, ergänzte Adrian:
    – Und zehn andere auch – wegen zionistischer Verschwörung.
    Adrian legte eine Herald Tribune auf den Tisch.
    – Lies, sagte er.
    Aber Charlotte wollte nicht lesen.
    – Hier wird doch gerade bewiesen, sagte Adrian, während er mit dem Zeigefinger auf die Zeitung pochte, dass sich nicht das Geringste geändert hat.
    – Kannst du bitte mal leiser sprechen, sagte Charlotte.
    – Na bitte, sagte Adrian, du hast jetzt schon Angst. Wie soll das dort drüben werden?
    Das Essen kam, aber Charlotte wollte nichts essen. Eine Weile saßen beide vor ihren gefüllten Chilis. Dann sagte Adrian:
    – Der Kommunismus, Charlotte, ist wie der Glaube der alten Azteken: Er frisst Blut.
    Charlotte nahm ihre Handtasche und rannte hinaus auf die Straße.
     
    Fünf Tage später bestiegen sie das Schiff, das sie nach Europa bringen sollte. In dem Moment, da die Leinen gelöst wurden und der Boden unter ihren Füßen ein wenig, vielleicht nur um Millimeter nachgab, wurden ihre Knie weich, und sie musste sich mit äußerster Anstrengung an der Reling festhalten. Der Anfall verging, von Wilhelm unbemerkt, nach einer Minute.
    Die Küste verschwand im Dunst, das Schiff wandte sich dem Ozean zu und begann, eine schnurgerade Spur Kielwassers hinterlassend, seine Fahrt. Der Wind frischte auf, an Deck surrten die Wanten, und bald waren sie umgeben vom endlosen Grau, das in jeder Richtung bis zum Horizont reichte.
    Die Tage wurden lang, die Nächte noch länger. Charlotte schlief schlecht, träumte immer denselben Traum, in

Weitere Kostenlose Bücher