Ruge Eugen
Ruhig, sicher, als hätte er das lange geplant.
Das Geld, dachte er, würde er nachher auch in die Tüte stecken.
Dann wühlte er den breiten, oft schon missbrauchten Stechbeitel aus dem Werkzeugkasten, schlug ihn in den Türspalt des mit dem Sicherheitsschloss versperrten Unterschranks. Es krachte, Holz splitterte ab. Schwieriger als gedacht. Er musste sämtliche Schubfächer aus der anderen Hälfte des Unterschranks ziehen, bis die Zwischenwand so weit nachgab, dass die Tür aufsprang: Fotos. Ein erotisches Kartenspiel. Videos. Ein paar einschlägige Magazine … Und da war sie, er hatte sich nicht geirrt: die lange rote Plastikschachtel mit Dias. Nur ein einziges Mal hatte er die Schachtel geöffnet, hatte das erstbeste Dia gegen das Licht gehalten, seine Mutter erkannt, halb nackt, in eindeutiger Pose – und das Dia eilends zurück in die Schachtel gesteckt.
Er holte den Wäschekorb aus dem Bad und packte alles hinein.
Der einzige Ofen, der in der Wohnung verblieben war, stand im großen Zimmer. Er war jahrelang nicht mehr geheizt worden. Alexander holte Zeitungspapier, zwei hölzerne Buchstützen aus Kurts schwedischer Wand, es waren die Eulen, und das Bratöl aus der Küche. Tränkte das Zeitungspapier darin. Zündete das Ganze an …
Plötzlich stand Kurt in der Tür. Freundlich, ausgeschlafen. Die dünnen Beinchen ragten aus seinen Windelhosen heraus. Seine Haare standen kreuz und quer wie die Äste des Apfelbaums draußen. Neugierig tapste Kurt näher.
– Ich verbrenne deine Fotos, sagte Alexander.
– Ja, sagte Kurt.
– Hör zu, Vater, ich werde wegfahren. Verstehst du? Ich fahre weg, und ich weiß noch nicht, für wie lange. Verstehst du?
– Ja, sagte Kurt.
– Deswegen verbrenne ich das. Damit es niemand hier findet.
Kurt schien nichts ungewöhnlich zu finden. Er hockte sich zu Alexander neben den Korb, schaute hinein. Das Feuer kam jetzt in Gang, und Alexander begann, die Spielkarten einzeln hineinzuwerfen. Dann die Fotos, die Magazine … Die Videos, dachte er, würde er nachher in die Mülltonne werfen, aber die Dias mussten verbrannt werden. Nur, wo war die Schachtel?
Er sah auf: Kurt hielt die Schachtel in den Händen. Reichte sie ihm.
– Und? Was soll ich damit, fragte Alexander.
– Ja, sagte Kurt.
– Weißt du, was das ist, fragte Alexander.
Kurt überlegte angestrengt, rieb sich die Schläfe, wie früher, wenn er nach Worten gesucht hatte. Als würde er durch die Reibung elektrische Energie in seinem Gehirn erzeugen wollen, einen letzten Impuls.
Dann sagte er plötzlich:
– Irina.
Alexander sah Kurt an, sah ihm in die Augen. Er hatte blaue Augen. Hellblau. Und jung. Viel zu jung für das zerfurchte Gesicht.
Er nahm ihm die Schachtel ab, klopfte die Dias heraus. Warf sie, jeweils eine Handvoll, ins Feuer. Sie verbrannten geräuschlos und rasch.
Er zog Kurt an, kämmte ihn, rasierte noch rasch die Stellen nach, wo die Pflegerin Stoppeln gelassen hatte. Dann machte er Kaffee (für Kurt, aus der Kaffeemaschine). Fragte nicht erst, ob Kurt Kaffee trinken wollte. Dann war der Spaziergang dran, Kurt rannte schon zur Tür wie ein Hund, der die Regeln kennt und sein Recht fordert.
Sie gingen Kurts Runde: zur Post , wie es früher hieß, obwohl der Weg zur Post nur ein Bruchteil von Kurts täglicher Strecke war; dennoch hatte Kurt sich stets mit den Worten Ich geh mal zur Post zu seinem Spaziergang abgemeldet – und auch als er längst nichts mehr zur Post zu bringen hatte, fuhr er fort, zur Post zu gehen, und dieser Kurt’schen Pedanterie, immerhin, verdankten sich die siebenundzwanzigtausend Mark im Wandsafe. Denn eine Zeitlang hatte Kurt noch seine Geheimzahl gekannt und war in der Lage gewesen, Geld aus dem Automaten zu ziehen, und da er sonst nichts auf der Post zu erledigen hatte, zog er eben Geld. Immer tausendmarkweise. Einmal hatte er achttausend Mark in der Brieftasche gehabt. Alexander hatte das Geld genommen und in den Safe gelegt. Und so war er der Einzige, der von dem Geld wusste.
Sie gingen den Fuchsbau entlang, vorbei an den Nachbarhäusern, deren Bewohner Alexander einmal alle persönlich gekannt hatte: Hier hatte Horst Mählich gewohnt, der Wilhelm zeitlebens für einen sowjetischen Meisterspion gehalten und bis zum Schluss zu den Verfechtern der Theorie von Wilhelms Ermordung gehört hatte; dort war das Haus von Stasi-Bunke, der nach der Wende noch ein paar Jahre im Garten Gemüse gezüchtet und immer freundlich über den Zaun gegrüßt hatte, bevor
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