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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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gespielt.
     
    Nun, da er fünf war, stellte sich die Frage erneut:
    – Mama, wann fahren wir denn zu Baba Nadja?
    – Anfang September.
    – Wann ist denn September?
    – Jetzt wird es erst mal Mai, dann Juni, Juli, August, dann September.
    Alexander war wütend.
    – Du hast gesagt, wenn man größer wird, vergeht die Zeit schneller.
    – Wenn du groß bist, Saschenka. Richtig groß.
    – Wann bin ich denn richtig groß?
    – Richtig groß bist du mit achtzehn.
    – Wie groß bin ich dann? So groß wie Papa?
    – Bestimmt größer.
    – Warum?
    – Das ist eben so. Kinder werden meistens größer als ihre Eltern. Und die Eltern werden im Alter ja auch wieder ein bisschen kleiner.
    Auf Deutsch sagte sie:
    – Ein Pfund Schabefleisch, bitte.
     
    Der Sommer begann.
    Zuerst musste man noch um Kurze-Hosen-Erlaubnis feilschen. Aber schon bald, nach wenigen Tagen, legte der Sommer zu, verbreitete sich unmerklich, besetzte die letzten Winkel von Neuendorf, trieb die Kühle aus der feuchten Erde; das Gras war jetzt warm, die Luft schwirrte vor lauter Insekten, und niemand erinnerte sich mehr an die Gänsehaut am ersten Tag, als man kurze Hosen anhatte; niemand konnte sich vorstellen, dass der Sommer jemals zu Ende ging.
    Rollschuh laufen. Stahlrollen waren modern. Es ratterte mächtig. Wilhelm kam raus:
    – Das ist ja nicht auszuhalten, Affentheater!
    Flitzebogen bauen. Pfeile aus einem namentlich nicht bekannten Gesträuch, Spitzen mit Kupferdraht umwickelt. Uwe Ewald schießt Frank Petzold ins Auge. Krankenhaus, Riesenanschiss.
    Mit Kreide auf der Straße malen. Peter Hofmann malt ein Hakenkreuz. Macht daraus aber sofort ein Fenster – durch Ergänzung von Strichen.
    Ebenfalls streng verboten: Betreten des Bunkers. Die Großen tun es trotzdem. Die Kleinen auch. Als Alexander den Bunker betritt, erscheint ein Phantom aus der Tiefe: nur ein Kopf, die Wangen rot leuchtend. Vor Grauen richten sich Alexanders Haare auf. Stumm flieht er zum Ausgang.
    Nicht verboten, aber irgendwie auch nicht erlaubt: mit Renate Klumb Reiter und Pferd spielen. Sie muss sich ins Gras legen, bäuchlings, den Rock hoch. Er setzt sich drauf. Bewegen braucht Renate sich bei diesem Spiel nicht. Es reicht, dass sich Haut und Haut an einigen Stellen berühren.
    Grüne Äpfel fressen mit Matze. Und Durchfall.
    Katrin Mählich klemmt sich die Finger im Liegestuhl.
    Im Sandkasten bei Hofmanns werden Städte für Feuerkäfer gebaut. Die gibt’s jetzt in Massen. Die Steine sind von der Sonne warm, darauf sitzen sie, reglos, in Scharen.
    Und gerade als der Sommer vollständig zum Stillstand kommt, als die Tage sich nicht mehr von der Stelle bewegen, als die Zeit, allen Versprechungen zum Trotz, zu vergehen aufhört und Alexander es schon fast vergessen hat, sagt seine Mutter:
    – Nächste Woche fahren wir zu Baba Nadja.
     
    – Nächste Woche, verkündet Alexander, fahr ich in die Sowjetunion.
    Achim Schliepner zeigt sich wenig beeindruckt.
    – Die Sowjetunion ist das größte Land der Welt, sagt Alexander.
    Aber Achim Schliepner sagt:
    – Amerika ist größer.
     
    Die Reise: Grüner Waggon. Schlafwagen, gemütlich wie ein Häuschen auf Rädern. Man konnte auch Tee bestellen. Auf den Teegläsern war der Kreml drauf. Um den Kreml herum kreiste ein kleiner Sputnik.
    Räderwechsel in Brest. Breitere Spur für die Sowjetunion.
    – Stimmt’s, Mama, die Sowjetunion ist das größte Land der Welt.
    – Ja, natürlich.
    Er erinnerte sich an nichts. Aber er kannte alles . Sogar den Geruch der Moskauer Taxis: halb nach angebranntem Gummi, halb nach Benzin. Ganz Moskau schien ein bisschen nach Taxi zu riechen.
    Der Rote Platz: eine Schlange vorm Mausoleum.
    – Nein, Saschenka, so viel Zeit haben wir nicht.
    Dafür Eskimo-Eis. Und Prostokwascha mit Zucker.
    Die Metro: gigantisch. Vor der Rolltreppe hatte er ein bisschen Angst. Noch mehr vor den Türen.
     
    Dann nochmal drei Tage Zugfahrt. Swerdlowsk umsteigen. Dann noch einen halben Tag. Und dann, endlich, Slawa.
    Der Bahnhof lag außerhalb. Ein Jeep holte sie ab, umfuhr in weiten Schleifen die Löcher im Weg. Keine Löcher: Krater.
    Die Siedlung. Bretterzäune. Häuser aus Bohlen. Und jedes sah aus, als würde Baba Nadja dort wohnen.
    Der Fahrer hupte, Baba Nadja trat vor die Tür.
    – Warum weint Baba Nadja?
    – Weil sie sich freut, sagte Mama.
     
    Das Haus war klein. Eine Küche, ein Zimmer. In der Mitte des Hauses ein Ofen. Auf dem Ofen schlief Baba Nadja. Mama und Alexander schliefen im Bett.
    Der

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