Ruge Eugen
ein, schaltete die Programme durch.
Händel. Irgendeine dieser berühmten Arien: verhalten und von gefährlicher Melancholie. Vorsichtig hörte er hinein, jeden Augenblick bereit, die Musik abzuschalten, falls sie ihm zu nahe ging.
Was aber nicht der Fall war. Er lehnte sich zurück, lauschte verwundert dem überirdischen Sound der Arie – nein, eigentlich nicht überirdisch, im Gegenteil. Ganz anders als Bach: irdisch, diesseitig. So diesseitig, dass es beinahe wehtat. Abschiedsschmerz, wusste er plötzlich. Der Blick auf die Welt im Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit. Wie alt mochte Händel gewesen sein, als er dieses Wunder komponierte? Besser, man wusste es nicht.
Und wie viel Zeit sich dieser Kerl ließ. Und wie einfach das alles war, wie klar.
Er musste an seine letzte Inszenierung in K. denken. Gewiss, wenn man wollte, konnte man sich damit beruhigen, dass die Kritiken dann doch nicht so verheerend gewesen waren, wie er es befürchtet hatte. Er erinnerte sich, wie er zur Premiere auf den Stufen gesessen hatte. Wie er, innerlich ersterbend, mit angesehen hatte, wie die Schauspieler auf der Bühne zappelten und schrien, ihre Kunststückchen aufführten … Das umständliche, bunte Bühnenbild. Das aufwendige Lichtkonzept (für das extra noch ein teurer Tageslichtscheinwerfer zugekauft worden war) … Alles zu viel. Zu angestrengt. Zu kompliziert.
War es das? Dieses Angestrengte und Komplizierte. War das sein Krebs?
Non-Hodgkin-Lymphom … Und dann hatte dieser Kerl ihm die Krankheit erklärt: widerwillig sich auf dem Drehsessel hin und her wiegend, ein Plastiklineal in der Hand – hatte er wirklich ein Lineal in der Hand gehabt? Hatte er wirklich lustige kleine Kullern in die Luft gemalt, als er ihm etwas von den T-Zellen erzählte, die ihn langsam umbringen würden?
Das Absurde war, dass es sich um Abwehrzellen handelte. Um Zellen seines Immunsystems, eigentlich zur Abwehr fremdartigen Gewebes bestimmt, die sich aber, soweit Alexander verstanden hatte, nun selbst in feindliche Riesenzellen verwandelten.
Noch in der Nacht zuvor, in der Nacht vor der Diagnose, nachdem er stundenlang wach gelegen hatte, entnervt vom Rasseln des Sauerstoffapparates des alten Mannes, das unerbittlich durch die Ohrstöpsel drang, irgendwann gegen drei Uhr, nachdem er sich alle Fragen gestellt, alle Möglichkeiten durchgespielt hatte, nachdem er schließlich aufgestanden und in den Flur geschlichen war und vergeblich versucht hatte, das Problem auf der anatomischen Karte zu lokalisieren – nach alldem hatte er schließlich gedacht: Egal, was es war, egal, wo es war, man würde es herausschneiden, und er würde kämpfen, so hatte er gedacht, um dieses Leben, und bei dem Wort kämpfen hatte er sich unwillkürlich im Humboldthain seine Runden drehen sehen, um sein Leben laufen, hatte er gedacht, die Krankheit aus sich herauslaufen, laufen, bis nichts mehr von ihm übrig blieb als der Kern, als die Essenz, bis zwischen Haut und Sehnen einfach kein Platz mehr war für irgendwelches feindliches Gewebe …
Es gab nichts herauszuschneiden, nichts zu lokalisieren. Es kam aus ihm selbst, aus seinem Immunsystem. Nein, es war sein Immunsystem. Es war er selbst. Er selbst war die Krankheit.
Die Stimme in seinem Ohr malte ein paar kleine Schleifchen. Hüpfte, gackerte. Lachte …
Er nahm die Schlafmaske ab. Prüfte, ob jemand sein Erröten bemerkt hatte … Aber niemand kümmerte sich um ihn. Der dicke Goldkettchenmensch (der es immerhin auch geschafft hatte, keinen Krebs zu bekommen) starrte auf seinen Schirm. Die bleiche Mutter versuchte ein wenig zu schlafen. Nur das Kind sah ihn an, mit glänzenden, colafarbenen Augen.
Mexiko, Flughafen. Warmluftgebläse. Beiläufig beim Betreten der Stadt (des Landes, des Kontinents) die Feststellung, dass es nicht so riecht wie der Nitratdünger im Wintergarten seiner Großmutter.
Taxifahrt. Der Fahrer fährt wie eine gesengte Sau, schief auf seinem Sitz hängend, halb aus dem offenen Fenster gelehnt. Achterbahn. Alexander lehnt sich zurück. Der Wagen rast über mehrspurige Avenidas, der Fahrer reißt das Steuer herum, fährt mit singenden Reifen im Kreis, irgendwie falsch herum, rast durch Nadelöhre, der Verkehr draußen brüllt, scharfe Rechtskurve, dann wird die Straße schmal, links und rechts Menschen auf den Gehwegen, der Fahrer fährt bei Rot, jetzt, zum ersten Mal, bewegt er den Kopf, um zu schauen, ob die Straße frei ist.
Hotel Borges: Empfehlung des Backpacker . Im
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