Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
Vom Netzwerk:
Portemonnaie.
    – Ich will aber keine Milch, sagte Alexander.
    – Wie bitte?
    Entsetzen hatte sich auf seine Stimme gelegt. Er konnte kaum sprechen.
    – Ich will keine Milch, wiederholte er leise.
    Seine Mutter nahm die Milchkanne entgegen.
    – Du willst keine Milch?
    Sie verließen den Laden, seine Beine bewegten sich kaum. Seine Mutter kniete neben ihm nieder.
    – Was ist denn, Saschenka?
    Silbenweise teilte er seine Befürchtungen mit. Seine Mutter lachte.
    – Aber Saschenka, ich werde doch nicht verhaftet!
    Er begann zu weinen. Seine Mutter hob ihn hoch und küsste ihn.
    Lapotschka nannte sie ihn: Pfötchen.
    Beim Bäcker bekam er ein Stück Bienenstich. Die Süße des Honigs vermischte sich mit dem Salz der Tränen auf seinen Lippen. Die Welt kam allmählich wieder in Ordnung.
    – Aber Frau Blumert ist verhaftet worden, sagte er.
    – Ach, Unsinn! Die Mama verdrehte die Augen. Wir sind doch nicht in der Sowjetunion!
    – Warum?
    – Ach, das rede ich bloß so daher, sagte die Mama. Nicht dass du Omi erzählst, in der Sowjetunion wird man verhaftet.
     
    Sie wohnten im Steinweg. Unten wohnten Omi und Wilhelm. Oben wohnten sie: Mama und Papa und er.
    Papa war Doktor. Kein richtiger Doktor, sondern Doktor im Schreibmaschineschreiben. Papa war sehr groß und sehr stark und wusste alles. Mama wusste nicht alles. Mama konnte noch nicht mal richtig Deutsch.
    – Na, was heißt denn auf Deutsch «Kryssa»?
    Schon war Mama außer Gefecht gesetzt.
    Andererseits hatte Mama im Krieg gekämpft: gegen die Deutschen.
    – Hast du welche totgeschossen?
    – Nein, Saschenka, ich hab nicht geschossen. Ich war Sanitäterin.
    Trotzdem erfüllte es ihn mit Stolz. Seine Mama hatte den Krieg gewonnen. Die Deutschen hatten verloren. Seltsamerweise war Papa auch Deutscher.
    – Hast du gegen Mama gekämpft?
    – Nein, ich war, als der Krieg anfing, schon in der Sowjetunion.
    – Warum denn?
    – Weil ich aus Deutschland geflohen bin.
    – Und dann?
    – Habe ich Holz gefällt.
    – Und dann?
    – Habe ich Mama kennengelernt.
    – Und dann?
    – Haben wir dich geboren.
    Geboren, das stellte er sich so vor wie ein Loch in die Erde bohren. So ähnlich wie Omis Rasensprenger. Das war eine lange Stange mit Spitze, die wurde in den Rasen gebohrt. Der Rest war noch unklar. Es hatte mit Erde zu tun.
     
    Sonntags kroch er zu seinen Eltern ins Bett. Er steckte sich den Finger in den Hintern und sagte:
    – Riech mal.
    – Pfuh, rief sein Vater und sprang aus dem Bett.
    Verblüffende Erkenntnis: dass auch die eigene Scheiße stinkt.
    Dann machten sie Frühsport mit Hula-Hoop-Reifen.
    – Das ist jetzt modern, sagte Mama.
    Mama war nämlich modern. Papa war nicht so modern. Er wollte immer die alten Sachen behalten.
    – Die Schuhe sind doch noch gut, sagte er.
    Aber Mama sagte:
    – Die sind nicht mehr modern.
     
    Eindringlich: der Geruch, wenn Mama das Huhn über der Gasflamme absengte.
    Günstig: dass Papa lieber das Weißfleisch aß.
    Unbegreiflich: dass die Eltern freiwillig Mittagsschlaf machten.
     
    Später Schachspielen. Papa gab ihm zwei Türme vor, trotzdem gewann er immer.
    – Morphy hat schon mit sechs Jahren gegen seinen Vater gewonnen, sagte sein Vater.
    Das war aber nicht so schlimm. Er war ja erst vier. Erst mal musste er fünf werden. Und dann hatte er immer noch Zeit. Sehr viel Zeit, um seinen Vater im Schach zu besiegen.
     
    Die Wochentage: Montag bis Freitag. Und auch das wusste er schon: Es gab Erstenfreitag und Zweitenfreitag. Zweitenfreitag ging er nämlich zur Omi.
    Vorher baden. Die Haare kämmen. Und dann, er ahnte es schon, holte Mama rasch noch die Schere heraus.
    – Immer wenn ich zur Omi gehe, musst du mir an den Haaren schnippeln.
    – Jetzt halt doch mal still.
    – Das piekt aber!
    Genau das war es – das typische Zur-Omi-Geh-Gefühl: frisch gewaschen, Bademantel, und im Nacken piekten die abgeschnittenen Härchen.
    – Nun geh schon, Lapotschka, sagte die Mama.
    Mama stand oben an der Treppe. Omi stand unten an der Treppe.
    – Na, komm schon, mein Spätzchen, sagte Omi.
    Er drehte sich um, winkte der Mama zu. Das sollte heißen: Kannst ruhig gehen. Er wollte nicht, dass sie hörte, wie Omi «mein Spätzchen» sagte. Er wollte auch nicht, dass Omi hörte, wie Mama «Lapotschka» sagte.
    Aber die Mama verstand ihn nicht. Blieb stehen, nickte ihm zu.
    Langsam, sehr langsam, hangelte er sich am Geländer hinab, bis die Stufen sich krümmten und die Treppe in breitem Schwung in die Diele auslief, wo immer

Weitere Kostenlose Bücher