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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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angesammelt hatten, stopfte alles in ihre Aktentasche und ging.
    Im Flur klickerte eine defekte Neonröhre.
    An den Türen waren noch immer die Flecken zu sehen, die die Russen nach dem Krieg mit ihren Machorkas eingebrannt hatten.
    Die Wandzeitung kündete vom neuesten Triumph der sowjetischen Technik und Wissenschaft: Vorgestern war ein Sowjetbürger namens Juri Gagarin als erster Mensch in den Weltraum geflogen.
     
    Draußen war es warm. Plötzlich war der Frühling gekommen, Charlotte hatte es nicht bemerkt. Sie beschloss, die zwei Kilometer zu Fuß zu gehen, den Weg durch das Bahndammwäldchen, ein wenig entspannen, das schöne Wetter genießen. Schon nach wenigen hundert Metern begann sie zu schwitzen. Die Aktentasche wog schwer. Sie trug noch immer die dicke Strickjacke unter dem Mantel. Bilder aus ihrer Kindheit gingen ihr plötzlich durch den Kopf: ein warmer Tag, das weiße Wollkleid, das sie – jetzt erinnerte sie sich – immer hatte tragen müssen, wenn ihre Mutter sonntags mit ihr in den Tiergarten ging, um dem Kaiser, wie es hieß, ihre «Aufwartung» zu machen. Und dann hatte Charlotte den Kaiser angeniest. Mit einem Mal war das ganze Szenario wieder da: Der Kaiser selbst, der sich forschen Schrittes näherte, in breiter Reihe mit seinen Brüdern und Ordonnanzen; das viel zu warme, entsetzlich kratzende Wollkleid auf ihrer nackten Haut; die derbe Hand ihrer Mutter, die sie mit ganzer Wucht traf, während sie noch die Augen geschlossen hatte.
    Den Rest des Tages hatte sie zur Strafe in der Kammer verbracht, wo sie vor Asthma fast umkam, ohne dass ihre Mutter sich davon rühren ließ – sei es, dass sie Charlotte für eine Simulantin hielt, sei es, dass sie tatsächlich insgeheim ihren Tod wünschte. Ich würde die Lotte drum geben, so hatte die Mutter einmal zur Nachbarin gesagt, und Charlotte erinnerte sich an ihre Märtyrermiene und das Kreuz auf dem hochgeschlossenen Kragen – ich würde die Lotte drum geben, wenn Carl-Gustav «normal» würde.
    Die Schule des Lebens. Wäre sie nicht durch diese Schule gegangen – wäre sie heute, was sie war? Madame Zackzack: ihr Spitzname bei den Studenten. Die glaubten, das ärgere sie. Weit gefehlt! Charlotte umfasste die Aktentasche mit beiden Händen … Nein, dachte sie, Madame Zackzack gab nicht auf. Madame Zackzack würde kämpfen. Harry Zenk Prorektor! Na, das wollen wir doch mal sehen.
     
    Wilhelm war natürlich wieder im Keller, in der «Zentrale», wie er den ehemaligen Weinkeller nannte, den er zu einer Art Versammlungsraum umgestaltet hatte. Im Haus war es dunkel, besonders wenn man aus der blendenden Spätnachmittagssonne kam. Nur die Muschel, in die Wilhelm einen Schalter einzubauen versäumt hatte, leuchtete Tag und Nacht – eine Verschwendung, die Charlotte wettzumachen versuchte, indem sie es vermied, das Licht einzuschalten, während sie sich ihrer Schuhe und ihres Mantels entledigte. Blindlings fand sie ihre Hauspantinen und stieg eilends die Treppen hinauf: Um sechs würde Alexander zum Spanischunterricht kommen.
    Sie holte sich frische Wäsche aus dem Schlafzimmer, dann ging sie ins Bad und duschte ausgiebig. Seit Doktor Süß diagnostiziert hatte, dass ihr Asthma die Folge einer Hausstauballergie war, betrachtete Charlotte das Duschen als medizinische Behandlung und hatte keine Hemmungen mehr, sich diesen Luxus mehrmals am Tag zu gönnen – morgens natürlich kalt, aber nachmittags und abends duschte sie warm, wusch sich die Haare, ließ das Wasser lange über Gesicht und Augen strömen, reinigte mit Wohlgefühl Nasen- und Mundhöhle. Wenigstens diesen Vorteil hatte der Auszug von Kurt und Irina ja doch: dass nicht ständig jemand irgendwo im Haus Wasser aufdrehte, sodass man sich, infolge des ohnehin geringen Wasserdrucks in Neuendorf, entweder verbrühte oder abgeschreckt wurde wie ein Frühstücksei.
    Nach dem Duschen schlüpfte sie in die bereitgelegte Baumwollunterwäsche, zog, schon im Vorgefühl des Fröstelns, das sie gleich, beim Verlassen des Badezimmers, überkommen würde, ihren nicht mehr ganz salonfähigen, aber kuschelig-warmen Kaschmirpullover über und hatte plötzlich die Idee, dem ganzen Luxus noch eins draufzugeben, indem sie nämlich Alexander für heute abbestellte und sich stattdessen ein bisschen hinlegte, bis Wilhelm zum Abendbrot aus dem Keller kam. Hatte sie es sich nicht verdient nach dieser irrsinnigen Woche?
    Sie ging hinunter in den Salon und rief Kurt an.
    – Gut, sagte Kurt, dann bis morgen.
    Bis

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