Ruge Eugen
darauf, obwohl sie, je mehr sich die Sache dem Ende näherte, desto sicherer war, dass sie nicht in den Keller gehen würde …
Was nun? Der Akademieapparat fiel ihr ein: Erst kürzlich hatte Wilhelm einen Anschluss seines sogenannten Akademieapparates in den Keller verlegen lassen – ein internes Betriebstelefon, das Wilhelm, obwohl er bereits seit sechs Jahren aus der Akademie ausgeschieden war, unverdrossen weiterbenutzte. Sie ging zu ihrem Akademieapparat und rief Wilhelm auf seinem Akademieapparat an, um ihm mitzuteilen, dass die Brote auf dem Küchentisch standen – und obwohl sie im selben Moment von einem mörderischen Hunger überfallen wurde, verdrückte sie sich erst einmal aus der Küche, um nicht dabei zu sein, wenn Schlinger das Tablett holte.
Sie aß viel und schlief schlecht. Nachts gegen halb drei setzte der Harndrang ein, sie wankte durch den Flur wie ein Kind, ängstlich und dünnhäutig. Zur Wolfsstunde, wie ihre Mutter diese Uhrzeit genannte hatte, war sie von jeher den verschiedensten Anfechtungen ausgesetzt. Selbst die Muschel im Flur war ihr unheimlich; sie sah nicht nach links, nicht nach rechts, versuchte, an nichts Schlimmes zu denken. Aber als sie auf dem Klo saß und darauf wartete, dass das letzte Tröpfchen abging, kam ihr auf einmal der Verdacht, ihr Artikel könnte dem Genossen Hager missfallen haben; sie könnte sich völlig verrannt haben und ihr Artikel sei in Wirklichkeit schlecht und kleinlich und rückwärtsgewandt …
Am Morgen war der Gedanke immer noch da, wenn auch durch das Tageslicht gemildert. Trotzdem widerstand Charlotte der Versuchung, im Morgenrock zum Briefkasten zu rennen und nachzuschauen, ob das ND schon gekommen war. Sie stand auf wie immer, duschte kalt, bereitete sich einen Muckefuck und ein Toastbrot mit Butter, erst dann ging sie die Zeitung holen, brachte sie, zusammen mit Toast und Muckefuck, in den Wintergarten, schaffte es sogar, zuerst die Titelseite zu überfliegen, auf der von kriminellen Machenschaften an der Sektorengrenze die Rede war, und blätterte dann geduldig bis zur Kulturseite – und da war er!
Mehr als eine Frage des guten Geschmacks. Wolfgang Koppes Roman «Mexikanische Nacht» im Mitteldeutschen Verlag. Von Charlotte Powileit
Es war nicht das erste Mal, dass etwas von ihr gedruckt wurde, aber Routine war es keineswegs. Obwohl sie den ganzen Artikel im Grunde auswendig konnte, las sie noch einmal jedes Wort, genüsslich, mit Toastbrot und Muckefuck. Jetzt, wo er gedruckt stand, wirkte der Artikel noch fester, noch schlüssiger als vorher.
Im Grunde genommen handelte es sich um eine Rezension, aber da sie auch grundsätzliche Fragestellungen behandelte, hatte man Charlotte eine Halbseite eingeräumt: alle sechs Spalten. Es ging um das Buch eines westdeutschen Schriftstellers, das jüngst in einem DDR-Verlag erschienen war. Es war ein schlechtes, ein ärgerliches Buch, Charlotte hatte es von der ersten Seite an gründlich missfallen. Es handelte von einem jüdischen Emigranten, der nach Deutschland – ins westliche Deutschland – zurückkehrte und feststellte, dass die faschistische Ideologie dort immer noch fortlebte. So weit, so gut. Anstatt aber – immerhin eine denkbare Alternative – in die DDR zu gehen, kehrte er nach Mexiko zurück, wo er ein bisschen über Leben und Tod philosophierte und sich schließlich das Leben nahm. Zwar war es spannend und sprachlich brillant, auch vertrat der Autor zweifellos eine antifaschistische Gesinnung – aber das war auch schon alles.
Noch das geringste Übel: Mexiko war vollkommen falsch dargestellt, als wäre der Autor nie da gewesen.
Gegen die Tatsache, dass die Hauptfigur homosexuell war, hatte Charlotte im Prinzip nichts einzuwenden, auch wenn sie, das musste sie zugeben, auf unangenehme Weise an ihren Bruder Carl-Gustav denken musste, wenn der Ich-Erzähler seine homoerotischen Abenteuer mit minderjährigen mexikanischen Strichjungen schilderte: langatmig, zermürbend, ekelhaft.
Ihr Haupteinwand war jedoch politischer Art. Das Buch war negativ. Defätistisch. Es zog den Leser in dunkle Sphären hinunter, machte ihn passiv und klein, stellte ihn hilflos in eine Welt, die grausam war und schlecht, zeigte keinerlei Auswege auf – weil es, so meinte der Ich-Erzähler, keine Auswege gab. Seltsamerweise überkam ihn diese Gewissheit ausgerechnet beim Anblick der Kolossalstatue der Coatlicue.
Anstatt in der Statue die Dialektik von Leben und Tod zu erkennen, anstatt sie
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