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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Anerkennung nur auf Druck der Bundesrepublik wieder zurückgezogen!). Sie war Sektionsleiterin an einer Akademie – und was war Wilhelm? Ein Nichts. Ein Rentner, vorzeitig pensioniert … Und wahrscheinlich, dachte Charlotte, während sie, blind vor Wut, in den Kühlschrank starrte, auf der Suche nach irgendwas, das sie auf die Brote schmieren konnte, wahrscheinlich wäre Wilhelm nach seinem Scheitern als Verwaltungsdirektor der Akademie vor die Hunde gegangen , wenn sie nicht selbst zur Bezirksleitung gerannt und die Genossen angefleht hätte, Wilhelm irgendeine wenigstens ehrenamtliche Aufgabe zu geben. Sie selbst hatte ihn ermutigt, den Posten des Wohnbezirksparteisekretärs zu übernehmen, sie hatte ihm eingeredet, dass dies eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe sei – das Problem war nur, dass Wilhelm dies inzwischen selbst glaubte. Und, was noch schlimmer war: Die anderen glaubten es offenbar auch!
    Sie entschied sich für die runde Schachtel Schmelzkäse und ein Glas saurer Gurken und begann, die auf dem Tablett ausgelegten Brote zu bestreichen … Wohnbezirksparteisekretär: Das war der Mann, der den Parteibeitrag der zehn oder fünfzehn Veteranen zwischen Thälmannstraße und OdF-Platz kassierte – nichts weiter. Aber was machte Wilhelm? Hielt irgendwelche geheimen Versammlungen ab, da unten in seiner Zentrale, plante irgendwelche «Operationen». Zu den letzten Kommunalwahlen hatte er eine motorisierte Einsatzstaffel organisiert, um denjenigen, die am frühen Nachmittag immer noch nicht gewählt hatten, Agitatoren auf den Hals zu schicken: Den ganzen Rasen hatten diese Trottel zerfahren! Seine neueste Idee: die Lokomotive für Kuba. Neuendorf, mit seinen nicht einmal zehntausend Einwohnern, sollte das Geld für eine Diesellok aus dem Karl-Marx-Werk aufbringen. Überall sammelten sie wie verrückt, die Jungen Pioniere brachten Altstoffe weg, und am Ende sollten die Leute noch etwas für eine große Tombola hergeben, die am nächsten Wochenende im Klub der Volkssolidarität stattfinden und den Höhepunkt der ganzen Aktion darstellen sollte.
    Unglaublich, wie er die Leute einzuwickeln verstand, dachte Charlotte, während sie die Brote mit Schmelzkäse bestrich. Mit seinen Andeutungen, seinem Gehabe. Mit seinem Hut, den er zu jeder Jahreszeit trug. Fast war er, sie musste es zugeben, schon eine Berühmtheit in Neuendorf. Stand andauernd in der Zeitung, auch wenn es nur die Lokalpresse war. Die Leute kannten ihn, sie grüßten ihn auf der Straße. Nicht sie, er wurde gegrüßt. Die Leute erzählten sich irgendwelche unerhörten Geschichten … Wie machte der das? Nein, man konnte nicht sagen, dass Wilhelm solche Geschichten in die Welt setzte. Aber irgendwie, weiß der Teufel … Er nagelte sein Lasso an die Wand in seiner Zentrale – und schon waren die jungen Genossen überzeugt, Wilhelm sei ein begnadeter Lassowerfer gewesen. Er schenkte Cuba Libre aus, und schon glaubten alle, er kenne Fidel Castro persönlich! Und wenn er Nescafé auf «mexikanisch» trank (was nichts anderes hieß, als dass er das Pulver zuerst mit Kaffeesahne anrührte, sodass dann eine kleine Schaumkrone auf dem Kaffee entstand) und dazu eine russische Papyrosse rauchte, war eigentlich allen klar, dass Wilhelm in Mexiko das sowjetische Geheimdienstnetz aufgebaut hatte.
    Wenn die wüssten, dachte Charlotte. Sie hielt einen Augenblick inne (sie war gerade dabei, die winzigen Gurken in winzige Scheiben zu schneiden). Hielt inne und dachte an Hamburg: Wilhelms «Geheimdiensttätigkeit». Drei Jahre lang hatte er im Büro gesessen und Zigaretten geraucht. Das war Wilhelms «Geheimdiensttätigkeit». Drei Jahre auf verlorenem Posten. Nichts ging mehr. Nachrichten über Verhaftungen trudelten ein, und Wilhelm saß da und wartete. Worauf eigentlich? Worauf hatten sie eigentlich gewartet? Wofür hatten sie ihr Leben riskiert? Sie wusste es nicht. Jeder weiß nur so viel, wie er wissen muss , sagte Wilhelm. Und sie, anstatt mit den Jungs nach Moskau zu gehen, war in Deutschland geblieben und hatte die Ehegattin gespielt: zur Tarnung. Fast war sie – das konnte man natürlich keinem erzählen – froh gewesen, als alles aufflog und sie Hals über Kopf abhauen mussten. Mit Schweizer Pässen. Bei Wilhelms Berliner Dialekt. Du lieber Gott, das war ein Geheimdienst. Nicht einmal anständige Pässe konnten sie einem beschaffen.
    Erbärmlich, die Brote: Der frische Teig war beim Bestreichen gerissen. Wütend verteilte Charlotte Gurkenscheiben

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