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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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als Ausdruck einer großen Idee und als Hervorbringung eines heroischen Volkes zu würdigen, erblickte der Ich-Erzähler in ihr eines der «kühnsten und kältesten Monumente der Vergeblichkeit», ein «reines Bekenntnis zur Hässlichkeit der Existenz», woraus er den Schluss zog, dass es am besten sei, allein in den Dschungel zu gehen – und darin zu verschwinden.
    Nein, dieses Buch, las Charlotte und fand sich mit jedem Wort, jeder Silbe im Recht, dieses Buch eignet sich nicht, um die Jugend zu einer weltzugewandten, humanistischen Haltung zu erziehen. Es eignet sich nicht, um die Menschen gegen das drohende atomare Inferno zu mobilisieren. Es eignet sich nicht, um den Glauben an den Fortschritt der Menschheit und an den Sieg des Sozialismus zu fördern, und deswegen gehört es nicht in die Regale der Buchläden unserer Republik.
    Punkt.
    Der Muckefuck war ausgetrunken, der Toast gegessen. Übrig blieb ein komisches Ziehen im Bauch: Irgendwo in ihren Unterlagen lungerte noch eine Abbildung der Coatlicue, ausgeschnitten aus dem Siempre . Oder war sie von Adrian?
    Die Versuchung, die Wirkung von Coatlicue zu prüfen – fast zehn Jahre danach.
    In der oberen Etage begann es zu rumoren: Acht Uhr, Wilhelm stand auf. Das Badewasser rauschte. Tatsächlich pflegte Wilhelm schon morgens zu baden und, während er in der Wanne saß, eine Viertelstunde täglich Höhensonne zu nehmen. Charlotte brachte die Zeitung zurück in den Briefkasten – ein bisschen albern, gewiss, aber der Stolz auf ihren Artikel war ihr peinlich, und sie wollte, dass Wilhelm die Zeitung vorfand wie immer und den Artikel selbst entdeckte.
    Viertel nach acht standen die Haferflocken bereit. Wilhelm kam die Treppe herunter, in bester Laune, sie erkannte es am Schritt, und bereits in Krawatte und Anzug (einen Anzug trug er sogar unterm Blaumann). Er marschierte schnurstracks zum Briefkasten, holte sein ND , überflog, wie gewöhnlich, die erste Seite, um sie, während er seinen Haferflockenbrei löffelte, zu kommentieren. Sein heutiger Kommentar:
    – Ein Affentheater mit Westberlin. Dann muss man die Staatsgrenze eben abriegeln!
    Dummes Zeug natürlich, aber Charlotte hatte nicht vor zu streiten. Sie schwieg, löffelte ihre Haferflocken. Wilhelm verstand nicht die Bohne von Außenpolitik. Viermächtestatus, Potsdamer Abkommen: Böhmische Dörfer für ihn, dachte Charlotte. Sagte aber:
    – Der Hausmeister ist auch weg.
    – Der Wollmann?
    – Genau, der Wollmann, sagte Charlotte.
    – Zum Teufel mit Wollmann, sagte Wilhelm. Aber die jungen Leute! Verstehst du: Studieren auf unsere Kosten, und dann hauen sie ab. Da muss man den Riegel vorschieben!
    Charlotte nickte und räumte die Teller ab.
     
    Nach dem Frühstück ging Wilhelm ND lesen. Er tat dies am Schreibtisch. Noch immer, wie damals in Mexiko, las er jeden Artikel.
    Charlotte widmete sich inzwischen ihren häuslichen Pflichten, wartete aber in Wirklichkeit darauf, dass Wilhelm ihren Artikel entdeckte. Sie fing an, die Küche aufzuräumen, beschloss dann, dies Lisbeth zu überlassen; streunte durchs Haus, überlegte, was man mit den frei gewordenen Zimmern von Kurt und Irina anfangen könnte; war erneut gekränkt beim Anblick der Möbel, die sie, Charlotte, für Kurt und Irina gekauft hatte, als diese aus der Sowjetunion heimgekommen waren, und die Irina nun bei ihrem Auszug demonstrativ hatte stehenlassen – und war plötzlich wieder bei Zenk. Genauer gesagt, sie dachte darüber nach, wie sie das Problem Zenk bei Hager vorbringen könnte, falls Hager in den nächsten Tagen anrief, oder, noch genauer, wie sie, ohne es direkt auszusprechen, klarmachen könnte, dass sie sich selbst, offen gestanden, für einen geeigneteren Prorektor hielt.
    Als sie wieder nach unten kam, war Wilhelm bereits im Haus unterwegs.
    – Bist du schon fertig mit dem ND , fragte Charlotte scheinheilig.
    – Ja, sagte Wilhelm, kann das mit zur Tombola?
    Er hielt eine Tischdecke hoch: in den mexikanischen Farben, handgewebt, mit Schlangen- und Adlermotiv.
    – Nein, Wilhelm, die geht auf keinen Fall mit zur Tombola.
    Hatte er den Artikel nicht gelesen? Oder hatte er bloß ihren Namen übersehen?
     
    Um zehn kam Lisbeth. Wie immer pflegte Lisbeth alle Fragen, auch die bereits geklärten, fünfmal zu stellen … Nein, Lisbeth, es wird nicht staubgesaugt, wenn ich im Haus bin … Ja, heute Wäsche … Ja, Mittagessen um eins.
    – Liest du eigentlich ND , Lisbeth?
    – Ich hab ja schon die Märkische Volksstimme .
    – Ach

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