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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Frage, die ihm einfiel, nämlich ob die Azteken an eine Art Paradies geglaubt hätten, konnten die Frauen dann doch einigermaßen beantworten: Die Azteken, so war im Audioführer gesagt worden, glaubten durchaus an ein Paradies, und Einlass in dieses Paradies erlangten die im Kampf Gefallenen, die auf dem Altar Geopferten und – waren es Kinder, wie Kati meinte? Oder, wie Nadja sich zu erinnern glaubte, im Kindbett gestorbene Frauen?
    An der Paradiesfrage hatte sich ein Gespräch über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Jenseitsvorstellungen und schließlich von Religionen überhaupt entsponnen, wobei sich herausstellte, dass Kati und Nadja nicht nur über fast alle Religionen der Welt irgendwie ein bisschen Bescheid wussten, sondern sogar mehrere selbst praktizierten oder praktiziert hatten: Kati hatte wochenlang in einem Ashram gelebt, besuchte in der Schweiz regelmäßig eine tibetische Buddhismus-Schule, führte aber auch ein Bildchen der Jungfrau Maria in ihrer Reisetasche mit; Nadja verehrte, wie Kati, den Dalai-Lama, hatte sich auf Haiti mit Voodoo-Zauber beschäftigt, besuchte im Übrigen Tantra-Kurse, glaubte an die Heilkraft von Bergkristallen und hielt es, wie auch Kati, nicht für vollkommen unmöglich, in Wirklichkeit Botschafterin einer außerirdischen Zivilisation zu sein.
    Erstaunlich, wie leicht ihnen das alles über die Lippen ging, wie mühelos und selbstverständlich sie das alles zusammenbrachten, wie luftig, wie schwerelos diese neue Weltreligion war, wie ein rasch hingeworfenes Aquarell, denkt Alexander und erinnert sich, während er im Bus nach Teotihuacán sitzt, an seine eigene, schwierige, verrückte, gewaltsame Begegnung mit ebenjenem , damals, in diesem Winter, dem Jahrhundertwinter, als alles zerbrach und die Vögel – buchstäblich – vom Himmel fielen. Er versucht sich zu erinnern: an den Moment, als es – ja, was eigentlich? – ihn berührte oder sich ihm zuwandte oder sich zu erkennen gab? Er weiß es nicht mehr. Der Moment entzieht sich der Erinnerung, er erinnert sich nur an das Davor und an das Danach, er erinnert sich, wie er tagelang (tagelang?) auf den Dielen irgendeiner Abrissbude gelegen und ohnmächtig verfolgt hatte, wie der Schmerz ihn inwendig ausfraß; an Dunkelheit erinnert er sich; an seine wundgelegenen Hüftknochen – und er erinnert sich an das Danach, an ein Gefühl der Erlösung, der Einsicht, er erinnert sich daran, wie er eines Morgens mit dem lauwarmen Aschekasten in der Hand in den Hinterhof trat, wie er dort stand und aufschaute und wie er es sah: dort oben, im schwarzen Geäst einer Hinterhofpappel.
    Körperchemie? Heller Wahnsinn? Oder der Moment der Erleuchtung? Tagelang war er danach mit dem Lächeln eines Verzückten durch die Straßen gegangen, jede rostige Laterne war ihm wie ein Wunderwerk erschienen, der bloße Anblick der gelben Bahnen, die auf der Hochstrecke über der Schönhauser ratterten, hatte Glücksgefühle ausgelöst, und in den Augen der Kinder, die ihm, dem Lächelnden, ungehemmt ins Gesicht schauten, hatte er es mehr als einmal gesehen: das, wofür ihm, dem atheistisch Erzogenen, kein Wort zur Verfügung stand.
    Besteht seine Sünde im Hochmut? Besteht sie darin, dass er tatsächlich geglaubt hat, nun ein für alle Mal und gegen alles gefeit zu sein? Oder besteht sie darin, dies alles irgendwann verdrängt und verleugnet zu haben? Ist es Reue, was ihm abverlangt wird? Soll er lernen, die Botschaft endlich anzuerkennen? Den Namen zu nennen, der den beiden Schweizerinnen so leicht über die Lippen geht?
     
    Auf dem Parkplatz vor der Stadt Teotihuacán stehen mehr Autos und Autobusse, als Alexander erwartet, mehr, als er befürchtet hat. Schubweise spazieren die Ankommenden an den Souvenirläden vorbei zum Eingang. Eintrittskarten werden gekauft. Es ist heiß und staubig. Langsam zieht die Touristenkarawane die Straße der Toten entlang – die Hauptverkehrsachse der einstigen Stadt. Eine Straße mit Stufen: Die Azteken kannten kein Rad. Infolgedessen verkehrt auf der breiten, glattgepflasterten Magistrale bis heute nichts, was Räder hat. Selbst die Souvenirverkäufer, die links und rechts in der prallen Sonne stehen, tragen ihre spärliche Ware hierher, bieten sie auf leichten Klapptischen an, behängen sich damit oder befördern sie in kleinen Bauchläden.
    Einer der Verkäufer spricht Alexander an, begleitet ihn ein paar Schritte. Der Mann ist klein, nicht mehr jung. Seine Fingernägel sind schwarz wie die kleinen

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