Ruge Eugen
immer geglaubt hatte. Dachte es – und erschrak noch nicht einmal darüber.
Um elf zog er, ohne ein Wort zu verlieren, die Uniform an, und sie stellten sich zusammen vor die Haustür. Kurt und Irina kamen in ihrem neuen Lada, in dessen Fond Oma Charlotte saß.
– Mein Junge, sagte die Omi.
– Na, siehst du, sagte Kurt.
– Er sieht aus wie deutsche Soldat, sagte Irina und wischte sich, bevor sie Gas gab, eine Träne aus dem Auge.
Es roch nach fabrikneuem Kunstleder.
Die Borduhr des Lada 1300 zeigte vier Minuten nach elf.
Es war der 2. Dezember 1973.
Alexander hatte noch fünfhundertunddreizehn Tage zu dienen.
2001
Er hat gut geschlafen. Er will es Marion mitteilen – sie hatte wieder mal recht, denkt er, ohne ganz genau zu wissen, womit, aber wahrscheinlich schläft sie noch, er will sie nicht wecken. Er dreht sich noch einmal auf die Seite, zu Marion hin, zufrieden, dass sie da ist. Nur ist, als er die Augen öffnet, die andere Seite des riesigen Doppelbettes leer.
Er zieht das unberührte Kissen an sich, zerknautscht es.
Immerhin hat er nicht geschwitzt diese Nacht, er hat kein Fieber, er leidet nicht unter Schmerzen oder Übelkeit; in einem Internetcafé hat er inzwischen die Symptome studiert, allesamt ziemlich unklar, unspezifisch, wie sie es nennen, doch eines lässt sich nicht leugnen: dass die Lymphknoten, nach denen seine rechte Hand jetzt tastet, noch immer geschwollen sind.
Er nimmt die Ohropax aus den Ohren. Steckt sie, einer dummen Anwandlung folgend, unter das unberührte, jetzt zerknautschte Kissen. Steht auf.
Prüft, ob die Hunde tatsächlich noch da sind (positiv).
Putzt sich die Zähne – neuerdings mit Mineralwasser, seit er im Internet gelesen hat, dass Non-Hodgkin-Lymphome mit einer höheren Anfälligkeit für Infekte verbunden sind. Und dann, wie ein Morgengebet, passiert auch der Text über die Lebenserwartung, den er im Internet gefunden hat, fast wörtlich sein halbwaches Bewusstsein:
Bezogen auf alle Non-Hodgkin-Lymphome, beträgt die durchschnittliche Fünfjahres-Überlebenszeit für Männer derzeit 62 Prozent, für Frauen 66 Prozent. Bei diesen Zahlen handelt es sich um Durchschnittswerte. Darin enthalten sind sehr viele Patienten, die zehn Jahre und länger überlebt haben. Aus den Durchschnittswerten auf die individuelle Überlebenszeit Rückschlüsse ziehen zu wollen hat deshalb keinen Sinn. Die Chancen auf ein möglichst langes Überleben steigen, wenn Patienten für eine gesunde Lebensweise sorgen.
Alexander fährt mit dem Fahrstuhl fünf Stockwerke abwärts. Neuerdings frühstückt er im Hotel. Statt fetter, unübersichtlicher Pampe im Café gegenüber rührt er sich ein Müsli zusammen, es gibt hier Joghurt und Früchte und mehrere Sorten Getreideflocken, wenngleich allesamt geröstet oder kandiert. Es gibt sogar Vollkornbrot, beinahe wie in einem Hotel in Europa. Alexander tut sich von allem auf, entschlossen, keine Appetitlosigkeit zu dulden.
Er setzt sich ans große Fenster. Nach einer Weile kommen die beiden Schweizerinnen – er hat sie im Hotel kennengelernt. Er weiß nicht genau, ob er wünscht, dass sie sich zu ihm setzen, aber die Frage ist schon entschieden, bevor er sich darüber klargeworden ist. Drei Tage einer flüchtigen, obendrein perspektivlosen Bekanntschaft reichen offenbar aus, um Verpflichtungen erwachsen zu lassen.
Übrigens ist nichts gegen die beiden einzuwenden. Sie heißen Kati und Nadja. Sie sind noch nicht dreißig. Sie tragen Flip-Flops. Und reisen gerade um die Welt. Sie waren, wie sich herausgestellt hat, schon zwei Monate in Afrika, dann in Brasilien, Argentinien, Feuerland, Chile, Peru, Ecuador und noch irgendwo. Jetzt sind sie eine Woche in Mexico City, De-Effe , wie sie fachkundig sagen, irgendwo unterwegs haben sie auch einen Sprachkurs gemacht. Von DF aus fahren sie mit dem Bus nach Oaxaca, von dort weiter nach San Cristóbal de las Casas oder Palenque (die Reihenfolge weiß er nicht mehr genau), jedenfalls: Wenn sie mit Mexiko fertig sind, werden sie nach Sydney fliegen, um mit dem Van den Südosten – oder war es der Nordwesten? – Australiens «unsicher zu machen», wie sie sagen, dann nach Neuseeland, um die Kiwis kennenzulernen, und schließlich nach Bangkok, von wo aus sie, falls sie nicht – einer Empfehlung ihres Backpackers folgend – noch einen Abstecher ins Mekong-Delta machen, nach Europa zurückkehren wollen.
Sie haben einen Round-the-world-Backpacker, wo alles drinsteht. Anhand dessen planen sie
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