Ruge Eugen
sie an haitianische Voodoo-Masken erinnert.
Kati kauft sich eine Halskette aus Obsidian, passend zu ihren dunklen Haaren.
Auch Schildkröten aus Obsidian werden angeboten. Unauffällig, ohne dass die Frauen es sehen, stellt Alexander seine Schildkröte zu den anderen: den Hunderten, die hier auf den Verkaufstischen herumstehen.
Sie kosten fünfundzwanzig Pesos.
1976
Wenn Irina den Ursprung jener Aprikosen hätte erklären sollen, die sie am Vormittag des Weihnachtstages in Würfel schnitt, um sie, zusammen mit anderen Früchten, zur Füllung ihrer Klostergans zu verarbeiten, so hätte sie mit der Geschichte vom Fuß beginnen müssen.
Schon oft hatte Kurt diese Geschichte erzählt – Irina wusste kaum noch, wann sie sie zum ersten Mal gehört hatte –, die Geschichte davon, wie der Ast eines fallenden Baumes Kurt im Herbst 1943 den Fuß zerschlug und wie der junge Leutnant Sobakin ihm das Leben gerettet hatte, indem er dafür sorgte, dass Kurt, ohnehin am Ende seiner Kraft, nicht auf die Krankenstation kam (wo die Brotrationen noch knapper waren), sondern eine Zeitlang als Nachtwächter an den rund um die Uhr beheizten Teeröfen arbeiten konnte – eine Beschäftigung, die zudem noch lukrativ war, weil ganz in der Nähe ein Kartoffelfeld lag. Später, nachdem Kurts Strafe in «ewige Verbannung» umgewandelt worden war, spielten er und Sobakin, inzwischen Hauptmann, in einem Büro der Lagerverwaltung Schach, führten, wie Kurt berichtete, ungewöhnlich freimütige Diskussionen über Gerechtigkeit und Sozialismus, befreundeten sich – und entzweiten sich wieder, als sich beide in dieselbe Frau, nämlich in sie, Irina Petrowna, verliebten. Damals war sie Zeichnerin im Projektierungsbüro gewesen.
Nach dem Umzug in die DDR verloren sie Sobakin aus den Augen. Er verwandelte sich in eine anekdotische Figur, eine Figur aus einer fernen, abgeschnittenen, unwirklicher werdenden Welt – bis Kurt an einem heißen Tag dieses Jahres gegen halb vier nachmittags einen Anruf aus dem Ministerium für Staatssicherheit bekam und von einem aufgeregten Anrufer gefragt wurde, ob er derjenige Kurt Umnitzer sei, der von 1941 bis 1956 in Slawa, Nord-Ural, gelebt habe: Ein sowjetischer General wolle ihn sprechen.
Sobakin hatte ungefähr einhundert Kilo zugenommen, erdrückte Irina beinahe vor Freude über das Wiedersehen, war glücklich wie ein Kind über Kurts wissenschaftliche Karriere (habe er Kurt nicht immer schon umniza – russisch so viel wie «Schlaukopf» – genannt?), soff, wie selbstverständlich im falschen, nämlich in Kurts Sessel sitzend, eine Flasche Wodka aus, erzählte eine Menge Wunderliches über den kommenden Weltkrieg, den er für eine ausgemachte Sache hielt, und schlug beim Abschied versehentlich eine tellergroße Beule in das Dach des fast noch ganz neuen Lada.
Sei es wegen dieser Beule im Dach des fast noch ganz neuen Lada, sei es wegen der Frage der Gerechtigkeit und des Sozialismus oder aus irgendeinem anderen Grund – zwei Monate später brachte der Postbote ein großes Paket in den Fuchsbau, schwer wie ein Ziegelstein, das nichts anderes enthielt als schwarzen russischen Kaviar.
Den geringsten Teil dieses Kaviars verzehrten Kurt und Irina selbst (ihr Kaviarappetit hielt sich in Grenzen, denn obwohl es in Slawa kaum ausreichend Lebensmittel gegeben hatte, war dort, ausgerechnet im Sommer nach Stalins Tod, ein ganzer Güterwaggon schwarzen Kaviars angekommen, «auf Zuteilung», wie es hieß, und Kurt und Irina hatten sich derart an Kaviar überfressen, dass Irina eine Art anaphylaktischen Schock erlitt und danach monatelang in der Angst lebte, das Kind, das sie unmittelbar nach Stalins Tod gezeugt hatten, durch übermäßigen Kaviarverzehr geschädigt zu haben) – den geringsten Teil also verzehrten sie selbst; einen größeren Teil boten sie – typischerweise nach ausschweifenden Partys – Freunden zum Sektfrühstück an; der größte Teil des Sobakin’schen Kaviars jedoch ging als Schmier- und Zahlungsmittel in den undurchsichtigen Kreislauf der unter Ladentischen und in Hinterzimmern gehandelten Waren ein.
In der Galerie am Stern erstand Irina gegen Zuzahlung von Kaviar mehrere Stücke der begehrten Waldenburg-Keramik, Ofenbrand mit bräunlichen Flugascheresten, die sie wiederum als Schmiermittel beim Erwerb von Dachfenstern verwendete; einen Teil der Dachfenster, die sie selbst nicht benötigte, brachte sie mit dem Pkw-Anhänger nach Finsterwalde und tauschte sie dort gegen etwas breitere
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