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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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hatte, Leo Trotzki mit einer Maschinenpistole umzubringen, wobei er sein Opfer unbegreiflicherweise verfehlte, obgleich er mitten in dessen Schlafzimmer stand.
    Das könnte er sagen, sagt es aber nicht. Er holt sich noch etwas Toast und Kaffee und jetzt doch ein Frühstücksei. Spürt, als er wieder am Tisch ankommt, dass die beiden über ihren Tagesablauf entschieden haben – und fragt nicht danach. Fragt nicht und wird nicht gefragt. Ist jetzt doch ein bisschen gekränkt. Und ärgert sich darüber.
     
    Eine Stunde später sitzt er in der Metro. Nach seiner Zeitrechnung ist es Sonntag, aber von sonntäglicher Ruhe ist nichts zu spüren: Die Metro scheint noch voller zu sein als sonst, die Leute sind aufgekratzt, manche tragen bunte Kostüme und mexikanische Flaggen. Ist das üblich, sonntags in Mexiko? Er muss einmal umsteigen nach Indios Verdes . Hier, am Rande eines riesigen Bus-Terminals, steht ein klappriger Bus mit einer wegen ihrer Größe sicherheitstechnisch bedenklichen Nationalflagge hinter der Frontscheibe und einem handgemalten Schild: Teotihuacán .
    Der Fahrer wartet, bis der Bus voll ist. Dann, schon während der Fahrt, geht ein junger Mann durch den Gang und kassiert, ohne Fahrscheine auszugeben, von jedem Fahrgast dreißig Pesos.
    Der Bus fährt durch Vorstädte oder Vor-Vorstädte, mit denen verglichen der Stadtteil, in dem die Jungs ihm das Geld abgenommen haben, wohlhabend genannt werden muss: Ameisenhügel, graue Schachteln, nebeneinander aufgestapelt. Zwischen dem Wohngebiet und der Ausfallstraße: Stacheldraht. Er versteht nicht, ob die Menschen am Hineingehen oder am Hinausgehen gehindert werden sollen.
    Es ist weiter, als er es sich vorgestellt hat. Was hat er sich vorgestellt? Der Bus rollt jetzt durch eine steppenartige Landschaft. Zivilisationsmüll. Kakteen, in denen sich bunte Plastiktüten verfangen haben.
    Er erinnert sich an ein Foto, winzig klein und schwarzweiß: seine Großmutter vor der Sonnenpyramide von Teotihuacán. Eigentlich ist fast nichts zu erkennen. Eine Kaktee, glaubt er, war mit im Bild. Seine Großmutter, glaubt er, stand daneben, in heller Kleidung, weitem Rock, die Bluse bis oben zugeknöpft, sehr artig, zivilisiert, ein bisschen wie die weiße Frau in King Kong , und hinter ihr, schwarz, silhouettenhaft: die Pyramide. Damals, als seine Großmutter ihm von der verlassenen Stadt erzählte, in deren Mitte die Pyramide steht, hat er sich, so glaubt er, die Stadt so vorgestellt wie morgens den Weg zum Kindergarten: leere Straßen, Dunkelheit, die Gaslaternen leuchten noch, und der schmächtige Mann, der morgens und abends mit dem Fahrrad durch Neuendorf fährt und mit einem langen, hakenbewehrten Stab die Gaslaternen entzündet oder löscht, steht auf geheimnisvolle Weise mit jenem kleinen, hässlichen Gott in Verbindung, der sich auf der Höhe der Pyramide ins Feuer stürzt, um als neue Sonne über der Erde aufzuerstehen.
    Jetzt ist er froh, dass er allein unterwegs ist. Das Museum gestern hat ihn beengt. Offenbar, denkt er, verträgt er keine Museen, selbst nicht die besten der Welt: Vielleicht ist es Zeit, das zuzugeben? Die Fülle erdrückt ihn, die Vielzahl, die Menge. Er weiß nicht, ob er die Geduld der beiden Schweizerinnen bewundern soll. Auch er hatte sich, ihrem Vorbild folgend, einen Audioführer geliehen, hatte eine Zeitlang versucht, den Informationen und Anweisungen zu folgen, und das Gerät dann entnervt abgeschaltet, um zwei Stunden in einem Zustand vollkommener Haltlosigkeit zwischen Massen von Ausstellungsstücken und Besuchern umherzuirren. Noch nicht einmal der aztekische Kalenderstein, den er von Wilhelms silbernen Manschettenknöpfen her kannte und der plötzlich riesenhaft und steinern vor ihm auftauchte, konnte ihn aus seinem Zustand erwecken.
    Danach verbrachten sie eine Stunde im Chapultepec-Park. Alexander setzte sich auf eine Bank, und die beiden Frauen, die im Museum immerzu und in einer Art, die ihn wütend gemacht hatte, miteinander getuschelt und sich über irgendetwas amüsiert hatten, legten sich auf die Wiese und schliefen sofort ein. Später, als sie in einem Café saßen, suchte Alexander eine Gelegenheit, das Gespräch noch einmal auf das Museum zu lenken, nur um den beiden, aber vor allem sich selbst, zu beweisen, dass nichts von dem dort Gesehenen und Gehörten bei ihnen hängengeblieben war, dass sie alles, davon war er überzeugt, innerhalb von zwanzig Minuten wie einen Rausch aus sich herausgeschlafen hatten – aber die

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