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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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entschlossen auf den Messerrücken stützend, den Kopf in zwei Hälften und empfand noch einmal, einen Atemzug lang, Genugtuung darüber, dass sie alldem tatsächlich entronnen war: sie, Irina Petrowna, das Kind mit den schwarzen Locken, für die sie gehänselt wurde, weil sie verrieten, von was für einem sie gezeugt worden war.
     
    Die Tür des Zimmers von Nadjeshda Iwanowna öffnete sich mit einem langgezogenen Krächzen. Ihre Mutter erschien in der Küche:
    – Pomotsch tebje?
    Ob sie helfen solle. Aber Irina brauchte keine Hilfe, im Gegenteil, es störte sie, wenn ihre Mutter ihr in die Töpfe guckte.
    – Die Innereien lass für mich übrig, sagte Nadjeshda Iwanowna in einem Tonfall, der einem Befehl nahekam.
    – Mama, sagte Irina, du brauchst hier bei uns keine Reste zu essen, begreif das doch mal.
    Nadjeshda Iwanowna zog ab, ihre Tür krächzte – man musste endlich einmal dem Tischler Bescheid sagen, dachte Irina, denn es lag, das wusste sie, nicht einfach am Öl, sondern daran, dass das untere Scharnier am Türrahmen schrammte.
    Sie nahm die Innereien vom Herd, würzte sie noch einmal mit Paprika (Paprika immer zum Schluss, sonst verlor er sein Aroma!), schwitzte dann den feingeschnittenen Rotkohl an, gab geriebenen Apfel dazu, ein bisschen Salz und eine Prise Zucker, legte die mit Nelken gespickte Zwiebel in den Topf, löschte alles mit Rotwein ab und ergänzte es mit heißem Wasser. Dann goss sie sich ein Bier ein – zum Kochen trank sie am liebsten Bier – und naschte schon mal ein wenig von den noch etwas zu heißen, aber köstlichen Innereien … Nein, es war nicht etwa so, dass sie ihrer Mutter die Innereien nicht gönnte. Die Sache war die, dass ihre Mutter es als ein Opfer ansah, die Innereien zu essen – und Irina war nicht bereit, dieses Opfer anzunehmen. Auch du isst heute Weihnachtsgans , dachte sie – und ertappte sich bei der Vorstellung, wie sie ihrer Mutter mit Gewalt ein Stück Gänsefleisch hineinstopfte …
     
    Kurt erschien, im Arbeitshemd – als sei das Dekorieren des Weihnachtsbaums Arbeit . Sie solle mal gucken kommen.
    Kurt dekorierte den Weihnachtsbaum seit drei Jahren. Eigentlich hatte er den Weihnachtsbaum abschaffen wollen, nachdem Sascha ausgezogen war, aber Irina hatte auf Wahrung der Traditionen bestanden. Das wäre ja noch schöner! Was wäre Weihnachten ohne Weihnachtsbaum? Der Weihnachtsbaum und die Klostergans gehörten einfach zu Weihnachten, und auch wenn Irina ein bisschen vor dem alljährlichen Besuch der Schwiegereltern graute, auch wenn sie schon jetzt die bemüht einvernehmliche Atmosphäre spürte, die jedes Jahr an der Festtagstafel aufkam: die gestelzten Gespräche, das umständliche Öffnen der Geschenke, die vorgetäuschte Freude bei allen (außer bei Wilhelm, der jedes Jahr aufs schärfste gegen das Beschenktwerden protestierte und jedes Jahr doch wieder eine Flasche Stolitschnaja und eine Dose Eberswalder Würstchen bekam, die er am Ende halb widerwillig, halb gönnerhaft einsteckte oder, genauer, von Charlotte einstecken ließ) – auch wenn das alles im Grunde peinlich und anstrengend und bis zu einem gewissen Grad idiotisch war, bestand Irina auf der Einhaltung des Rituals, ja, mochte es in gewisser Weise sogar, und sei es bloß wegen der Erleichterung, die eintrat, nachdem die Schwiegereltern gegangen waren, wegen dieser Stunde, wenn Kurt das Fenster öffnete und man sich erhitzt und erschöpft und vollgefressen in die Sitzecke fallen ließ, eine Zigarette rauchte und einen Kognak nahm und sich gemeinsam über Charlotte und Wilhelm amüsierte.
    – Ist er nicht zu kitschig, fragte Kurt.
    – Ein bisschen schief, sagte Irina.
    – Ja, aber findest du nicht, dass ein bisschen zu viel dran ist?
    – Ach was, sagte Irina und betrachtete mit schiefem Kopf den schiefen Baum, dessen Äste dick mit Watte und Lametta belegt und mit bunten Kugeln behängt waren, so wie es sich gehörte, und obgleich der Baum, den Kurt ausgesucht hatte, im Grunde ein Schreckgespenst war: Sobald es dunkelte und die elektrischen Kerzen leuchteten, würde es nicht weiter auffallen.
    – Die Lametta, sagte Irina, musst du noch machen ein bisschen nicht so klumpisch.
    – Jawoll, sagte Kurt, die Lametta nicht so klumpisch.
    – Was war jetzt wieder falsch?
    – Nichts, sagte Kurt und lächelte, was bei ihm immer ein wenig spitzbübisch, ja fast – gab es das Wort? – halunkisch aussah, weil sein Auge, das blinde, einen Tick aus der Bahn rutschte. Um nichts in der Welt hätte

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