Ruge Eugen
reden: sich so zu verunstalten!
Erst als die Neue die Küche wieder verlassen hatte, gab Irina an Rotkohl und Grünkohl noch je einen Esslöffel Butter – und an den Grünkohl zusätzlich einen Löffel Senf: das Geheimnis des Grünkohls. Man musste nicht alles verraten.
Pünktlich um zwei Uhr klingelte es: Charlotte und Wilhelm standen vor der Tür – mit ihren Dederon-Einkaufstaschen. Was würde wohl dieses Mal darin enthalten sein? Eine abwaschbare Tischdecke? Irgendein Kuba-Kalender?
Wilhelm trat ein, wie immer wortkarg und steif; Charlotte wie immer redselig und aufgekratzt und voll des Lobes für alles, was Irina tat. Es war wirklich seltsam: Je älter sie wurde, desto mehr lobte sie Irina, und zwar auf eine übertriebene, ja lächerliche Weise; schon beim Eintreten lobte sie die Gerüche, die aus der Küche drangen, schwor, noch mit einem Arm im Waschbärpelzmantel, den Kurt ihr abnahm, den ganzen Tag noch nichts gegessen zu haben als ein Frühstücksei (als tue sie Irina einen Gefallen, indem sie hungerte), fragte (bereits zum zweiten oder dritten Mal), ob die – in Wirklichkeit nicht ganz echte – Jugendstilgarderobe, die Irina weiß angestrichen hatte, neu sei, und lobte das selbst mitten im Winter noch lichte Haus, um schließlich in das immer wiederkehrende Lamento darüber zu verfallen, wie dunkel es bei ihr im Haus sei – Unterton: Ihr wohnt in einem Palast, und ich muss in einem Erdloch hausen!
Dramatische Wendung, als sie die Neue begrüßte. Theatralisch, bedeutungsvoll:
– Wir haben schon viel von Ihnen gehört!
– Ich nicht, sagte Wilhelm.
Charlotte lachte, wie sie immer über Wilhelms Witze lachte, genauer gesagt, wie sie über seine Grobheiten lachte: als handle es sich um einen Scherz. Aber wahrscheinlich sagte Wilhelm einfach die Wahrheit: Was konnte Charlotte denn schon über die Neue gehört haben!
Auch Nadjeshda Iwanowna kam jetzt aus ihrem Zimmer. Charlotte breitete die Arme aus: Nadjeshda Iwanowna! Dabei hatten sich die beiden nur ein einziges Mal im Leben gesehen, nämlich als Nadjeshda Iwanowna vor vier Jahren besuchsweise hier gewesen war. Aber auch Nadjeshda Iwanowna breitete nun die Arme aus und packte Charlotte mit ihren knorrigen Sägewerks- und Kartoffelerntehänden, drückte ihr links und rechts und wieder links einen Kuss auf, ein Missverständnis natürlich, man sah regelrecht, wie der Naphthalingeruch, der in Nadjeshda Iwanownas Kleidung hing, Charlotte den Atem verschlug, rasch entwand sie sich der Umarmung, schluckte, fasste sich wieder und brachte in zwar nicht ganz akzentfreiem, aber mehr oder weniger korrektem Russisch ein paar Begrüßungsfloskeln zustande – während Wilhelm gerade mal ein Dobry djenj hinbekam, jedoch schon nicht mehr verstand, was Nadjeshda Iwanowna entgegnete:
– Posdrawljaju s roshdestwom – gratuliere zu Weihnachten.
Und Wilhelm sagte:
– Garosch, garosch!
Was wiederum Nadjeshda Iwanowna nicht verstand; offenbar hatte Wilhelm sagen wollen: gut, gut , indes klang, was er sagte, eher wie: Erbse, Erbse .
Nadjeshda Iwanownas «Gratulation zu Weihnachten» war insofern pikant, als Wilhelm Weihnachten grundsätzlich ablehnte. Weihnachten, so Wilhelm, sei ein religiöses Fest, und Religion sei vom Klassenfeind und diene dazu, die Gehirne der Arbeiterklasse zu vernebeln, solches Zeug, und deshalb konnte Wilhelm das weihnachtliche Brimborium nicht mit seinem Gewissen vereinbaren und nahm, wie immer, mit dem Rücken zum Weihnachtsbaum Platz.
Charlotte dagegen war entzückt über den Weihnachtsbaum und verdrehte, zum Zeichen, dass sie nicht mit Wilhelm einverstanden war, hinter seinem Rücken die Augen; sie war entzückt über die Tischdekoration, war entzückt über die schönen Blumen (gemeint waren die Chrysanthemen); sie war überhaupt von allem entzückt und genehmigte sich, zu aller Überraschung, ein kleines Likörchen: Das habe sie sich, so erklärte Charlotte, auch mal verdient. Sie habe ja derartig geschuftet in letzter Zeit, sie sei ja vollkommen überarbeitet , am Rande des Zusammenbruchs …
Irina verkrümelte sich in die Küche.
Zwischen den Umnitzer-Stimmen vernahm sie jetzt hin und wieder Charlottes Flötentöne. Herrgott nochmal, auch das hatte sie überlebt, dachte Irina, während sie die Extrakartoffeln für Kurt schälte, auch diesem Elend war sie entronnen, und vielleicht war es ja das, was sie an Weihnachten liebte: dass sie nachher die Tür hinter Charlotte schließen konnte, ihre eigene Tür, die Tür
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