Ruhe unsanft
ich weiß nicht, was ich tun soll!«
Miss Marple klopfte einladend neben sich auf das Sofa. »Wie wär’s, wenn Sie sich zu mir setzten und erzählten, was eigentlich los ist?«
Mit einem Gefühl der Erleichterung gehorchte Gwenda und schüttete der alten Dame ihr Herz aus. Sie berichtete, wie sie »Hillside« zum ersten Mal von der Straße aus g e sehen hatte, und zählte dann all die kleinen Ereignisse auf, die sie erst verblüfft und dann erschreckt hatten.
»Jetzt habe ich richtig Angst«, schloss sie. »Ich dachte, wenn ich nach London fahre und in netter Gesellschaft bin, komme ich davon los. Aber es ist mir nicht gelungen, wie Sie selber sehen. Es verfolgt mich. Und gestern A bend im Theater…« Sie schloss die Augen und schluckte krampfhaft.
»Was war gestern Abend?«, fragte Miss Marple behu t sam.
»Sie werden es sicherlich kaum glauben«, antwortete Gwenda hastig. »Sie werden mich für hysterisch halten, oder seltsam oder so etwas. Es passierte ganz plötzlich, fast am Schluss des Stücks. Dabei hatte es mir bis dahin gut gefallen; ich hatte überhaupt nicht an ›Hillside‹ g e dacht. Es kam sozusagen aus heiterem Himmel, als der Held die Worte sprach…« Sie zitierte mit leiser Stimme: »Bedeckt ihr Antlitz! Vor meinen Augen flimmert es, sie starb so jung… Da war ich plötzlich wieder in ›Hillside‹, oben auf dem Treppenabsatz, und schaute durch das Geländer in die Halle hinunter, und da lag sie – auf dem Rücken – tot. Ihr Haar war wie ein goldener Fächer um den Kopf g e breitet und das Gesicht – dunkelblau angelaufen! Sie war erdrosselt, erwürgt worden, und irgendjemand sagte g e nau diese Worte, in demselben entsetzlichen Ton, und ich sah die Hände… Nein, keine Hände, eher Affenpfoten, sie waren grau und runzlig… Entsetzlich, glauben Sie mir. Die Frau war tot…«
»Wer war tot?«, fragte Miss Marple freundlich.
Gwendas Antwort kam rasch und automatisch: »H e len… «, sagte sie.
4
G wenda starrte Miss Marple entgeistert an und strich sich benommen das Haar aus der Stirn.
»Was war das? Wieso habe ich Helen gesagt? Ich kenne gar keine Helen!«
Sie ließ die Hand mit einer verzweifelten Geste sinken.
»Da haben Sie es: Ich bin verrückt! Ich sehe Gespen s ter! Auf Schritt und Tritt sehe ich Dinge, die gar nicht da sind – erst ist es nur eine Tapete, und nun sind es schon Leichen. Es wird ja immer schlimmer!«
»Ziehen Sie keine übereilten Schlüsse, meine Liebe…«
»Oder es liegt am Haus. Das Haus ist verhext oder ve r wunschen, irgend so etwas! Ich sehe Dinge, die früher dort passiert sind oder die sich dort ereignen werden – und das wäre noch schlimmer. Vielleicht wird eine Frau namens Helen in ›Hillside‹ ermordet! Obwohl das Haus doch nicht verhext sein kann, wenn ich diese Ersche i nungen auch hier in London habe, weit entfernt. Also muss ich es sein, bei der etwas nicht stimmt. Ich gehe lieber zu einem Psychiater – am besten gleich heute Mo r gen noch!«
»Meine liebe Gwenda, natürlich bleibt Ihnen das unb e nommen, aber Sie sollten diesen Gang erst tun, wenn alle Stricke reißen. Ich halte es immer für das Gescheiteste, erst nach den einfachsten und gewöhnlichsten Erkläru n gen zu suchen. Zählen wir noch einmal die nüchternen Fakten auf. Es waren drei bestimmte Ereignisse, die Sie verwirrten. Ein paar Gartenstufen, die Sie an einer b e stimmten Stelle vermuteten, waren überpflanzt und eine früher vorhandene Tür war zugemauert worden; hinter einer übermalten Schranktür befand sich eine Tapete, die Sie sich bis ins Detail vorgestellt, aber noch nie gesehen hatten. Soweit richtig?«
»Ja.«
»Dann ist die natürliche Erklärung, dass Sie diese drei Dinge tatsächlich schon einmal gesehen haben.«
»Wann? In einem früheren Leben?«
»Nein, in diesem. Ich meine, es könnten durchaus echte Erinnerungen sein.«
»Aber, ich bin erst vor einem Monat nach England g e kommen! Vorher war ich nie hier!«
»Sind Sie so sicher?«
»Natürlich. Ich habe mein ganzes Leben in Neuseeland verbracht, in oder bei Christchurch.«
»Sind Sie auch dort geboren?«
»Nein, geboren wurde ich in Indien. Mein Vater war Offizier. Meine Mutter ist ein oder zwei Jahre nach me i ner Geburt gestorben, und mein Vater schickte mich zu ihrer Familie nach Neuseeland. Dann starb auch er, nur wenige Jahre später.«
»Erinnern Sie sich noch an Ihre Umsiedlung von Indien nach Neuseeland?«
»Nicht genau. Ich war noch klein. Ja, an das Schiff eri n nere
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