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Ruhe unsanft

Ruhe unsanft

Titel: Ruhe unsanft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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ich mich, undeutlich, vor allem an ein dickes rundes Glas in der Wand – wahrscheinlich ein Bullauge – und an einen großen Mann in einer weißen Uniform. Er hatte ein rotes Gesicht und blaue Augen und eine tiefe Kerbe im Kinn – eine Narbe, vermute ich. Er warf mich immer in die Luft und fing mich wieder auf, und ich erinnere mich, dass es mir halb Angst und halb Spaß machte. Aber das alles weiß ich nur noch bruchstückhaft.«
    »Hatten Sie nicht ein englisches Kindermädchen, oder ein indisches? Eine Aja?«
    »Keine Aja. Aber eine Nannie, ja, natürlich. An die e r innere ich mich gut, denn sie blieb, bis ich ungefähr fünf Jahre alt war. Sie schnitt mir Papierenten aus. Ja, Nannie war mit auf dem Schiff. Sie hat geschimpft, wenn ich schrie, weil der Kapitän mich immer küssen wollte, und sein Bart kratzte so.«
    »Aha! Das ist interessant, Gwenda. Sie bringen zwei verschiedene Seereisen durcheinander; merken Sie es nicht? Einmal hatte der Kapitän einen Bart, das andere Mal ein rotes Gesicht und eine Narbe am Kinn.«
    »Da könnten Sie Recht haben«, sagte Gwenda betro f fen.
    »Ich schließe daraus, dass Ihr Vater Sie nach dem Tod Ihrer Mutter zunächst nach England gebracht hat und dass Sie eine Zeit lang wirklich in jenem Haus, in ›Hills i de‹, gewohnt haben. Sie sagten selbst, dass es Ihnen auf den ersten Blick so vertraut schien und Sie sich buchstä b lich zuhause fühlten. Wahrscheinlich schlafen Sie zurzeit in Ihrem ehemaligen Kinderzimmer.«
    »Ein Kinderzimmer war es auf jeden Fall. Vor dem Fenster ist ein Gitter.«
    »Sehen Sie? Und damals hatte es noch die hübsche bu n te Korn- und Mohnblumentapete. Kinder erinnern sich sehr genau an so etwas. Ich selbst habe nie die Schwertl i lien in meinem Kinderzimmer vergessen, obwohl ich kaum älter als drei war, als es neu tapeziert wurde.«
    »Habe ich deshalb auch gleich an das Puppenhaus und die Spielzeugregale gedacht?«
    »Sicher. Und beim Anblick der Badewanne mit dem Mahagonirand dachten Sie an Schwimmtiere.«
    »Stimmt«, sagte Gwenda nachdenklich, »es war, als wusste ich sofort, wo alles hingehörte, bis zur Küche und zum Wäscheschrank, und dass früher eine Verbindung s tür zwischen Salon und Esszimmer war. Aber es ist doch ganz unmöglich, dass ich nach England komme und au s gerechnet dasselbe Haus kaufe, in dem ich vor langer Zeit schon gewohnt habe?«
    »Unmöglich ist es nicht, meine Liebe. Es ist lediglich ein bemerkenswerter Zufall – und derartige Zufälle sind gar nicht so selten. Ihr Mann wollte gern ein Haus an der Südküste haben, Sie suchten etwas Passendes, kamen an einem vorbei, das Ihnen irgendwie vertraut schien und gefiel, und da es die richtige Größe und einen annehmb a ren Preis hatte, kauften Sie es. Das alles ist nicht allzu unwahrscheinlich. Hätte es im Haus gespukt, würden Sie ganz anders reagiert haben. Aber Sie hatten keine Angs t gefühle, wie Sie sagten, ausgenommen in einem ganz b e stimmten Moment: als Sie mit der Besitzerin die Treppe hinuntergehen wollten und von oben in die Halle blic k ten.«
    Eine Erinnerung an den überstandenen Schrecken fl a ckerte wieder in Gwendas Augen auf. »Sie meinen… dass die Sache mit Helen auch einmal Wirklichkeit war?«
    »Ja, meine Liebe«, sagte Miss Marple sehr freundlich. »Wenn die anderen Erinnerungen echt waren, müssen wir daraus schließen…«
    »Dass ich wirklich eine Frau tot – erwürgt – dort liegen gesehen habe?«
    »Dass sie erwürgt worden war, konnten Sie als Kind s i cher nicht erkennen; diese Todesart ist Ihnen durch den Theatermord gestern Abend suggeriert worden, zumal Sie als Erwachsene wissen, was ein blau angelaufenes Gesicht bedeuten kann. Ein kleines Kind, das gerade die Treppe hinunterkrabbeln will, begreift nur das allgemein Grässl i che von Gewalttat, Verbrechen und Tod, und falls dabei bestimmte Worte und Sätze ausgesprochen werden, pr ä gen sie sich unauslöschlich in das kindliche Gehirn ein. Ich zweifle nicht daran, dass der Mörder tatsächlich die betreffende Stelle aus dem alten Webster-Drama zitiert hat. Für ein Kind muss so etwas ein schwerer Schock sein. Kinder sind seltsame kleine Wesen. Wenn sie ein Angsterlebnis haben, das sie nicht verstehen können, verschweigen sie es. Sie scheinen es sogar zu vergessen. Aber es ist nur verdrängt. Tief im Innern lebt es weiter.«
    Gwenda holte tief Luft. »Und das soll mir passiert sein? Aber warum erinnere ich mich dann nicht gleich an a l les?«
    »So einfach ist das nicht.

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