Ruhe unsanft
Meist entgleitet die Erinn e rung, je mehr man sie zu fassen versucht. Aber mir sind noch ein oder zwei Hinweise aufgefallen. Zum Beispiel gebrauchten Sie eine sehr bezeichnende Redewendung, als Sie von Ihrem gestrigen Theatererlebnis erzählten. Sie sagten, Sie glaubten wieder durch das Geländer in die Diele zu sehen. Nun schaut ein Erwachsener gewöhnlich nicht durch, sondern über das Geländer. Nur ein Kind sieht hindurch.«
»Sie denken aber auch an alles«, sagte Gwenda bewu n dernd.
»Solche Kleinigkeiten sind oft bedeutsam.«
»Aber wer war Helen?«, fragte Gwenda verwirrt.
»Sie sind immer noch so sicher, dass sie Helen hieß?«
»Ja… es ist sehr seltsam, weil ich keine Helen kenne, zugleich aber sicher weiß, dass es eine Helen war, die tot in der Halle lag… Wie kann ich nur mehr herausfinden?«
»Zunächst brauchen wir, glaube ich, die Bestätigung, dass Sie als Kind in England waren. Ihre Verwandten müssten das…«
»Tante Alison«, unterbrach Gwenda sie. »Natürlich, Tante Alison muss das wissen.«
»Dann fragen Sie am besten gleich per Luftpost bei ihr an. Tun Sie so, als müssten Sie wegen irgendwelcher Formalitäten wissen, ob Sie schon mal in England waren. Bis zur Ankunft Ihres Mannes haben Sie vielleicht schon Antwort.«
»Danke, Miss Marple. Sie sind so furchtbar nett zu mir. Ich hoffe nur, Ihre Vermutungen treffen zu – weil dann alles in Ordnung wäre. Ich meine, es wäre nichts Übern a türliches im Spiel.«
Miss Marple lächelte. »Das wird sich schon herausste l len. Übermorgen fahre ich nach Nordengland auf Besuch zu alten Freunden. In etwa zehn Tagen komme ich noch einmal durch London. Wenn Sie und Ihr Mann dann hier sind und Sie Antwort aus Neuseeland haben, so wäre ich sehr neugierig auf das Resultat.«
»Natürlich halte ich Sie auf dem Laufenden, Miss Mar p le! Und Sie müssen unbedingt Giles kennen lernen. Er ist ein so lieber Kerl. Und dann reden wir ausführlich über die ganze Geschichte.«
Gwenda war wieder ganz munter geworden. Aber Miss Marple sah sehr gedankenvoll aus.
5
E twa zehn Tage später betrat Miss Marple ein kleines Hotel in Mayfair und wurde von dem jungen Ehepaar Reed begeistert begrüßt.
»Das ist also mein Mann, Miss Marple«, stellte Gwenda vor. »Ich hab dir ja schon erzählt, Giles, wie reizend Miss Marple zu mir gewesen ist.«
»Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Miss Marple. Wie ich gehört habe, hätte Gwenda beinahe durchgedreht.«
Miss Marples milde blaue Augen betrachteten Giles Reed wohl wollend. Ein sympathischer junger Mann, groß, blond, der ab und zu entwaffnend schüchtern mit den Augen zwinkerte. Seine Kinnpartie wirkte jedoch energisch.
»Ich habe den Tee in das kleine Schreibzimmer b e stellt«, sagte Gwenda. »Dahin verirrt sich nie jemand, und wir können uns in Ruhe über Tante Alisons Brief unte r halten. Ja«, fügte sie auf Miss Marples Blick hinzu, »sie hat sofort geantwortet, und zwar ganz so, wie Sie prophezeit haben.«
Bald danach, als sie ihren Tee getrunken hatten, las Miss Marple, was Gwendas Tante geschrieben hatte:
»Liebste Gwenda,
ich bin sehr besorgt, dass du in England Schwierigkeiten mit den Behörden hast. Und aus so nichtigem Grund ! Offen gestanden, ich hatte völlig vergessen, dass du als Kind eine Weile mit deinem Vater in England warst.
Deine Mutter, meine Schwester Megan, hatte Major Halliday, deinen Vater, bei einem Besuch in Indien kennen gelernt, wo d a mals gute Freunde von uns stationiert waren. Sie heirateten, und du wurdest dort geboren. Knapp zwei Jahre später ist deine Mu t ter gestorben. Es war ein großer Kummer für uns. Wir schrieben deinem Vater, den wir leider nie persönlich kennen gelernt haben, er möge dich uns doch anvertrauen. Für ihn als aktiven Offizier müsste ein kleines Kind sehr hinderlich sein. Wir würden uns freuen, für dich sorgen zu dürfen. Dein Vater lehnte jedoch ab und teilte uns mit, er wolle seinen Abschied nehmen und mit dir nach England zurückkehren. Hoffentlich könnten wir einmal e i ne Europareise machen und euch besuchen.
Soviel ich weiß, begegnete dein Vater schon auf der Fahrt nac h hause der jungen Dame, mit der er sich verlobte und die er gleich nach der Ankunft heiratete. Die Ehe wurde offenbar nicht glüc k lich, denn das Paar trennte sich schon nach etwa einem Jahr, und dein Vater fragte uns brieflich, ob wir immer noch bereit seien, dich in Pflege zu nehmen. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, meine Liebe, wie gern wir
Weitere Kostenlose Bücher