Ruhig Blut!
Haselholz wäre genau richtig. Worauf wartest du noch?
Mir geht es mit jeder verstreichenden Minute besser.«
Himmelwärts verschwand in den tropfenden Schatten. Oma hob und
senkte den Saum ihres Kleids vor dem Feuer, um sich warme Luft zuzu-
fächeln. In dem Luftzug stieg etwas Kleines und Weißes aus der Asche
auf, tanzte an den Flammen vorbei und landete im Moos. Oma griff
danach.
Es war ein Stück dünnes Papier, die angesengte Ecke eines Blattes. Im
roten Licht las sie die Worte: »… von Om… Hilfe für… Ossory
schlug…« Das Stück Papier hing am halb verkohlten Streifen eines Ein-
bands.
Oma betrachtete es eine Zeitlang und ließ es ins Feuer fallen, als das
Knacken von Zweigen Himmelwärts’ Rückkehr ankündigte.
»Kannst du unter diesen Umständen überhaupt den richtigen Weg fin-
den?« fragte er und reichte ihr einen langen Stock aus Haselholz.
»Ja. Du gehst an meiner Seite, und ich habe jetzt diesen Stock. Es ist
nichts weiter als ein Spaziergang im Wald.«
»Du siehst nicht besser aus als vorher.«
»Junger Mann, wenn du darauf warten willst, bis ich interessant ausse-
he, sind wir in einigen Jahren noch hier.«
Oma hob die Hand, und der Sanfte Falke flog aus den Schatten herbei.
»Wirklich gut, daß es dir gelungen ist, ein Feuer zu entzünden«, sagte
sie.
»Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß man nur Om vertrauen muß,
um eine Möglichkeit zu finden«, entgegnete Himmelwärts und folgte der
Hexe.
»Ich schätze, Om hilft denen, die sich selbst helfen«, sagte Oma.
Überall in Eskrau wurden Lampen angezündet und Türen entriegelt. Das
Läuten der Glocke hal te weiterhin durch den Nebel.
»Normalerweise versammeln wir uns auf dem Dorfplatz«, sagte Vlad.
»Es ist mitten in der Nacht!« erwiderte Agnes.
»Ja, aber es geschieht nicht sehr oft, nach unserem Abkommen höchs-
tens zweimal im Monat«, sagte Vlad. »Siehst du, wie gut es den Leuten in
Eskrau geht? Sie genießen Sicher heit. Sie sind vernünftig. Hier gibt es keine Fensterläden. Es ist nicht nötig, daß die Menschen Fenster und
Türen verriegeln, sich in den Kellern verstecken – eine Verhaltensweise,
die man leider an anderen Orten antrifft. Damit meine ich Orte, die erst
noch… befriedet werden müssen. Hier haben wir Furcht durch Sicher-
heit ersetzt, und…« Er schwankte, stützte sich an einer Wand ab und schüttelte kurz den Kopf. »Entschuldigung. Ich habe mich ein wenig…
seltsam gefühlt. Wovon habe ich gerade gesprochen?«
»Woher soll ich das wissen?« erwiderte Agnes scharf. »Angeblich sind
hier alle glücklich, weil gelegentlich Vampire zu Besuch kommen.«
»Oh, ja. Weil es hier keine Feindschaft mehr gibt, sondern Zusammen-
arbeit. Weil…« Er holte ein Taschentuch hervor und wischte sich damit
die Stirn ab. »Weil… Nun, du wirst es selbst sehen. Es… ist ziemlich
kühl hier, oder?«
»Nur klamm«, sagte Agnes.
»Gehen wir zum Platz«, meinte Vlad. »Dort fühle ich mich bestimmt
besser.«
Der Platz war nur wenige Schritte entfernt. Fackeln brannten dort, und
Menschen hatten sich versammelt. Die meisten von ihnen trugen De-
cken oder einen Mantel über den Nachthemden.
In lockeren Gruppen standen sie da, wie Leute, die den Feueralarm ge-
hört hatten, aber keinen Rauch sahen.
Ein oder zwei erkannten Vlad, woraufhin nervöses Hüsteln erklang.
Weitere Vampire schwebten durch den Nebel. Der Graf landete weich
und nickte Agnes zu.
»Ah, Fräulein Nitt«, sagte er. »Sind alle da, Vlad?«
Das Läuten verstummte. Wenige Sekunden später sank auch Lacrimo-
sa zu Boden.
»Du hast sie noch immer?« wandte sie sich an Vlad und hob beide
Brauen. »Na, wie du willst…«
»Ich spreche kurz mit dem Bürgermeister«, sagte der Graf. »Er weiß es
zu schätzen, wenn man ihn auf dem laufenden hält.«
Agnes beobachtete, wie er zu einem kleinen, pummeligen Mann ging.
Die Glocke hatte ihn mitten in einer feuchten Nacht aus dem Bett ge-
holt, aber er war geistesgegenwärtig genug gewesen, sich die goldene
Amtskette um den Hals zu hängen.
Vor dem Glockenturm bezogen die Vampire in einer Reihe Aufstel-
lung, jeweils etwa anderthalb Meter voneinander entfernt. Sie scherzten
und lachten leise. Nur Lacrimosa blieb stumm und richtete einen durch-
dringenden Blick auf Agnes.
Der Graf sprach mit dem Bürgermeister, der zu Boden starrte.
Bewegung kam in die Menschen auf dem Platz, als sie ebenfal s Reihen
formten. Zwei kleine Kinder liefen von ihren Eltern
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