Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
Vom Netzwerk:
«Von unten bis zur Decke und sooo schön geschmückt. Herrlich!»
     
    Seit einigen Jahren steigen die Immobilienpreise in Berlin. Die alten Bewohner, die weiterhin geringfügige Mieten bezahlen, stehen der Spekulation im Weg. Die Eigentümergesellschaft des Hauses will verkaufen. Also hat sie Frau Soller und ihrem Mann angeboten, ihre alte Wohnung gegen ein nigelnagelneues EG -Zweizimmerapartment in einem anderen Viertel zu tauschen. «Es war unsere letzte Chance», rechtfertigt sich Frau Soller. Und wenn sie sich damit brüstet, nur zwei Straßen von Daniel Barenboim entfernt zu wohnen, dann ganz bestimmt, um sich selbst zu beweisen, dass sie keinen schlechten Tausch gemacht hat.
    Eigenartigerweise entfaltete unser kleiner Zirkel erst wenige Wochen vor Frau Sollers Auszug einen Ansatz von Gemeinschaftssinn. Die Fassade unseres Gebäudes war frisch gestrichen worden, und eben hatte man die Gerüste und Planen, hinter denen wir einen ganzen Sommer lang erstickten, entfernt. Wir atmeten auf. Die Eigentümerversammlung befand, das müsse gefeiert werden. Also traf man sich zum ersten Mal in einem Saal beim Italiener der Straße, das Schild «Geschlossene Gesellschaft» an der Tür. Frau Soller, an einem großen Tisch, war im siebten Himmel. Sie betrachtete uns gerührt wie eine Henne, die es endlich geschafft hat, sämtliche Küken unter ihren Fittichen zu versammeln. Alle waren gekommen: die Seherin aus dem Dritten, die, wie mir einige unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatten, in ihrer Eigenschaft als Lebensberaterin bereits mehrmals von Hausbewohnern konsultiert wurde, um Eheprobleme, Depressionen und weitere seelische Verstimmtheiten zu bewältigen. Ihr Mann war «Reisender» im Ruhestand. Diese poetische Beschreibung, die ich im Telefonbuch der sechziger Jahre gefunden habe, meint nicht etwa einen Flaneur mit Spazierstock, der die Wege der Welt abschreitet, sondern den Chefvertreter einer illustren Firma amerikanischer Kosmetikprodukte, «an der Spitze von zwölf Assistentinnen, eine hübscher als die andere», wie seine Frau nie zu betonen vergaß. Auch der pensionierte Fußballtrainer aus dem Vierten war mit von der Partie, den man jeden Morgen, sommers wie winters, im Trainingsanzug und mit Wollmütze antrifft, wenn er, die blauen Augen blutunterlaufen, das rote Gesicht voller Schweißperlen, mit einer Tüte Schrippen in der Hand von seinem Jogging im «Pennerpark» zurückkehrt. Er schiebt für die Jungs aus dem Haus, die ihn vergöttern, jede Woche einen Stapel
Kicker
in den Briefkasten. Seine Frau, mit ihren indischen Tuniken und den langen bunten Seidenschals der letzte Hippie der Straße, kehrt, wenn ich sie auf dem Fahrradparkplatz treffe, stets von einer langen spirituellen Reise in Gebiete auf dem Globus zurück, deren Karma dem unserer so materialistischen Straße unendlich überlegen ist. Sie bricht am frühen Morgen auf, vor ihrem Mann und vor allem vor den Jungs unserer Straße, um auf dem Bolzplatz im «Pennerpark» ihre langsam kreisenden Tai-Chi-Bewegungen auszuführen, die sie «so wunderbar erden», wie sie lobt. Des Weiteren ein Professor und Diplomat, der sich großer Achtung erfreut, weil er sich in den hohen Staatssphären bewegt und jeden Morgen von einem Dienst-Mercedes mit Fahrer vor dem Haus erwartet wird. Und eine ganze Schar Neuer, die sich nacheinander vorstellen. An einem Extratisch nah am Buffet die Kinder. Nur Jungen.
    Die Harmonie dieses gelungenen Abends wäre beinahe durch eine kleine Rivalität getrübt worden: Wer hat am längsten in unserem Haus gewohnt? Die unangefochtenen Sieger waren der Reisende und die Seherin, die 1960 angekommen sind, gefolgt von Frau Soller, 1973 , ihr dicht auf den Fersen die ehemalige Hauswartsfrau, die nur wenige Wochen nach ihr eintrudelte. Danach brüstete sich jeder mit den historischen Ereignissen, denen er in Berlin persönlich beigewohnt hat: Blockade, Luftbrücke, Einweihung der Philharmonie, Volksaufstand vom 17 . Juni in der DDR , Bau der Mauer, Schikanen an den Grenzposten und vor allem mit dem Ereignis, zu dem alle ihren Part beizutragen hatten: dem spektakulären Fall der Mauer in der Nacht vom 9 . November 1989 , in der sich ein paar knatternde Trabants bis in unsere Straße verirrten …
    Erst sehr viel später vertraute Frau Soller mir an, dass sie auch dabei gewesen war, als sich Kennedy 1963 unter dem Balkon des Rathauses Schöneberg als Berliner outete. Die Firma hatte sie zum Winken freigestellt. Ganz klein in

Weitere Kostenlose Bücher