Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Unsere Gedanken, unsere Empfindungen, unsere Gefühle sind kollektiv beeinflusst. Der britische Biologe Rupert Sheldrake, Erforscher der Theorie der morphogenetischen Felder, berichtete von einer empirischen Beobachtung, die er an Tiergruppen derselben Art gemacht hat, vergleichbar mit uns Bewohnern der Straße: Die Affen auf einer japanischen Insel haben plötzlich völlig überraschend angefangen, die Süßkartoffeln vor dem Essen zu waschen, wie es die Affen auf einer anderen Insel taten, mit denen sie jedoch keinerlei physischen Kontakt hatten. Dies bewies, so Sheldrake, dass sich die Synchronizität von Verhalten auch innerhalb in sich geschlossener menschlicher Gruppen mit denselben Affinitäten einstellt.
Genau wie zwischen David Bowie, John Ron und mir.
Frau Soller zieht aus
So stelle ich mir den surrealen Zusammenprall vor, der Ende der siebziger Jahre, davon bin ich fest überzeugt, auf dem Gehsteig meiner Straße stattgefunden hat: Am frühen Abend verlässt Frau Soller ihr Haus, überquert die Straße, um auf dem anderen Gehsteig die U-Bahn-Station zu erreichen. Auf der Höhe der Nummer 7 kollidiert sie um ein Haar mit David Bowie, der gerade das Haus betreten will. Ihre Schultern streifen sich. Er geht einen Schritt zur Seite, murmelt «Sorry», vielleicht sogar «’tschuldigung». Er beugt den Oberkörper vor und gibt Frau Soller mit einer ausholenden Handbewegung den Weg frei. Sie blickt diesen spindeldürren Zwitter – schwarzer Ledermantel, Borsalino –, der aus der Dämmerung herausgeschossen kam, für den Bruchteil einer Sekunde an. Sie erkennt ihn nicht. Beide setzen ihren Weg fort.
Bärbel Soller und David Bowie? Eine kaufmännische Angestellte der Abteilung Damenoberbekleidung (kurz DOB ) im KaDeWe und ein Rockstar? Jedenfalls zwei Schicksale, die sich eigentlich nie hätten kreuzen sollen. Doch das Wahrscheinlichkeitsgesetz pfeift auf die Kompatibilität von Milieus. Es ist die Magie der Nachbarschaften, die solch flüchtige Begegnungen zweier Menschen, die nichts miteinander verbindet, zuwege bringt. Das einzige Gras, das Frau Soller je in der Hand gehalten hat, ist das Unkraut aus den Petunienkästen auf ihrem Balkon. Und bei nervösen Unruhezuständen zieht Frau Soller die Passionsblumenkrauttabletten dem Kokain bei weitem vor, mit Sicherheit aber Rex Gildo dem
Thin White Duke
.
Vor zwei Jahren ist Frau Soller aus der Wohnung im ersten Stock meines Hauses ausgezogen, in der sie seit jeher gelebt hat. So zumindest kam es mir vor, waren doch das Rascheln der Kreppsohlen auf dem Linoleum – dem alten Marmor in der Eingangshalle nachempfunden –, ihr schallendes «Guten Morgen!», der Fußabtreter «Willkommen» vor der Tür, der Geruch ihrer drei Katzen im Treppenhaus und ihr an die Regenrinne angeschlossenes Fahrrad nicht aus dem Haus wegzudenken. Bei ihrem Auszug hat sie eine Leere hinterlassen, die unsere kleine Gemeinschaft, plötzlich um eines ihrer Hauptglieder amputiert, schlecht zu füllen imstande ist. Ich muss mich zusammenreißen, um in den neuen Besitzern im ersten Stock, die abgesehen davon äußerst nette Menschen sind, nicht unverschämte Eindringlinge zu sehen. Manchmal schrecke ich zusammen, wenn sich bei meinem Vorbeigehen ihre Tür öffnet. Und den Blick auf eine pastellfarbene, helle und ganz neue Wohnung freigibt. Da ist nicht mehr dieser dunkle, braun tapezierte Flur, da sind nicht mehr die Katzen, die einen empfingen, wenn man bei Frau Soller klingelte.
Frau Soller kehrt regelmäßig zu einem Besuch zurück. Dann stellt sie ihr Fahrrad, als wäre alles beim Alten, an seinem gewohnten Platz ab, drückt zweimal fröhlich auf die Hupe, betritt dank des Schlüssels an dem orangefarbenen Band, den sie behalten hat, den Fahrstuhl und klappert nacheinander sämtliche Stockwerke ab. Als Erstes klingelt sie zweimal bei der ehemaligen Hauswartsfrau im Erdgeschoss. «Brigitte» kennt den Lockruf. Zweimal: Das ist Bärbel! Die beiden Frauen tauschen ihre alten Ausgaben der
Freizeit Revue
und
Funkuhr
und halten in der verrauchten Stube ein Schwätzchen. Dann steigt Frau Soller ein Stockwerk nach dem andern hinauf. Sie hängt ein Plastiktütchen mit hausgemachter Marmelade (Holunderblüten- oder Blutorangengelee, je nach Jahreszeit) an die Türklinke im zweiten, verweilt ein bisschen auf dem Treppenabsatz des dritten, wo sie sich zu den Themen Krankheiten und Kinder auf den neuesten Stand bringt, und kommt mit einem Käffchen bei der Gattin des Steuerberaters,
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