Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Wohlergehen. «Ich bin nun mal, wie ich bin. Wenn man sich nicht mal mehr unter Nachbarn behilflich sein kann …», verkündete sie, wenn man sie rügte, weil sie an einem Sonntagmorgen schon wieder die Zeitung und den noch warmen Kuchen in einer Tupperware vor die Tür gelegt hatte. Sandkuchen, Schneeflöckchen, Weihnachtsplätzchen, «alles selbstgemacht!». Frau Soller war in aller Frühe aufgestanden, um zu backen. Sie wagte nicht zu klingeln. Sie wollte auf keinen Fall stören. Bloß eine kleine Freude bereiten.
Seit Frau Soller nicht mehr da ist, ist in meiner Straße nicht mehr wirklich Weihnachten. An den Fenstern der neuen Nachbarn kleben Filz- und Strohsterne von untadeligem Geschmack, die wahrscheinlich direkt aus dem Katalog von Manufactum stammen. Nein, das ist nicht mehr dasselbe. Jedes Jahr am 1 . Dezember, einen Monat nach Allerheiligen, fing bei einbrechender Dunkelheit über dem Minikühlschrank auf ihrem Balkon eine Girlande vergnügter Plastikweihnachtsmänner mit Glühbirnchen im Bauch zu blinken an. An. Aus. An. Aus. Times Square im ersten Stock über dem Fahrradabstellplatz. Als Frau Soller noch arbeitete, rief sie um vier Uhr, wenn sie Feierabend hatte, aus dem KaDeWe ihren Mann an: «Mach bitte die Leuchter an, bin gleich da!» Kurt Soller gehorchte. Er setzte auf dem Balkon die Lichterkette und den Stern in Betrieb, der zwischen den Tannen und Stechpalmen am Ende eines Stiels steckte, und nacheinander die neun Pyramiden, in jedem Fenster eine. Und wenn Frau Soller um die Straßenecke bog, sah sie ihre Wohnung schon von weitem funkeln wie den Stern der Hirten über dem Himmel von Bethlehem.
Es wird erzählt, dass Frau Soller, die Mieterin war, den Kreis der Eigentümer mehrmals um die Erlaubnis bat, im Advent die Eingangshalle des Hauses schmücken zu dürfen. Sie fand die tabakfarbenen Marmorwände so streng. Kein einziger Stern oder Engel. Frau Soller konnte es sich nicht verkneifen, ihr Gesicht an die Glastür eines Nachbarhauses zu pressen. Mit einer Prise Neid und leichter Wehmut betrachtete sie den prachtvollen Weihnachtsbaum, den die Hausgemeinschaft wie jedes Jahr im weißmarmornen
Entré
aufgestellt hatte. Die Nachbarn taten sich zusammen. Einer ging den Baum kaufen. Dann wurde er zu dritt oder viert geschmückt. Frau Soller argwöhnte gar, dass sich an jenem Abend das ganze Haus bei einem von ihnen zu einem Glas Glühwein zusammenfand, um auf die Gemeinschaft ihrer so zusammengeschweißten Runde anzustoßen. Dieser große Gemeinsinn vor den Feiertagen löste ihre rückhaltlose Bewunderung aus. Ich habe ihr noch nicht zu erzählen gewagt, dass die Strohsterne unserer musterhaften Nachbarn letztes Jahr gestohlen wurden.
Und in ihrem eigenen Haus keine Spur davon. Da halfen sämtliche Rezepte für eine gute Nachbarschaft nichts, die Frau Soller so großzügig verteilte: «Lieber zweimal Guten Tag sagen, wenn man jemanden im Treppenhaus trifft. Um sicher zu sein, dass es auch ankommt. Wie man in den Wald reinschallt, so schallt es wieder raus. Wenn der eine freundlich ist, ist der andere es auch.» Keiner von uns kam auf die Idee, vor Weihnachten eine Runde Sekt zu spendieren. Ich weiß sehr wohl, dass unser Jeder-für-sich sie traurig machte. Frau Soller hat im Übrigen stets abgestritten, dass sie es war, die vor vier oder fünf Jahren die beiden kleinen Weihnachtsmänner von niederschmetterndem Kitsch auf den schwarzen Marmorkamin in der Eingangshalle gestellt hatte. Wenn die Fliesen unter den Schritten vibrierten, wiegten sie mit dümmlichem Lächeln und grünen Augen den Kopf hin und her. Dieser so harmlose Verstoß gegen die Hausordnung löste eine lebhafte Polemik aus. Den ganzen Advent lang wurden im Treppenhaus Verdächtigungen ausgetauscht. Einigen platzte schier der Kragen. Wer konnte es wagen! Es wurde sogar eine – erfolglose – Untersuchung eingeleitet, die eines Tatort-Kommissars würdig gewesen wäre. Die Weihnachtsmänner überlebten jedenfalls nicht länger als zwei Tage. Am dritten Morgen waren sie weg. Und niemand hat je erfahren, wer sie da hingestellt hatte noch was aus ihnen geworden ist. An der Wand über dem Kamin gibt es nur noch die beiden mythologischen Bronzefiguren, die sich traurig umarmen. Vielleicht um sie zu trösten, erlaubte der Friseur Frau Soller und ihrem Mann seither zu Silvester, das Feuerwerk über Berlin von seiner Dachterrasse aus zu sehen. In jener Nacht geriet Frau Soller vor dem riesigen Weihnachtsbaum des Friseurs in Ekstase:
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