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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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der riesigen Menschenmenge verguckte sich Bärbel Soller in diesen so smarten und so
easygoing
Mister President. Und nur wenige Monate später, im November, klopfte sie mitten in der Nacht an die Tür ihrer Zimmerwirtin: Kennedy war ermordet worden. Frau Soller und ich teilen bis heute eine naive Liebe zu John F. Kennedy.
    Der Reisende hielt als selbsternannter Conférencier unserer Tafelrunde eine schöne Rede. Wir applaudierten aus Leibeskräften, hoben unsere Gläser auf die Gesundheit unseres Hauses, wünschten unserer Straße ein langes Leben. Der Friseur ist der Extrovertierteste von uns allen. Vor dem Nachtisch erhob er sich und schlug der versammelten Gesellschaft den kollektiven Übergang zum «Du» vor. «Was unsere Schicksalsgemeinschaft noch mehr zusammenschmieden wird», erklärt er gerührt, den Tränen nahe. Unnötig hinzuzufügen, dass seine Initiative auf unterschiedliches Echo stieß. Manche versteiften sich auf ihren Stühlen. Andere taten so, als hätten sie nichts gehört, und stocherten auf ihren Tellern herum. Einzig ein kleiner, bereits beschwipster Kreis setzte mit Leichtigkeit über diese Grenze zur Intimität. Man ging sehr spät auseinander. Man versprach sich, das Ganze bald zu wiederholen. Spätestens Weihnachten.
     
    Der Auszug von Frau Soller steht unmittelbar bevor. Seit vielen Wochen räumt sie auf, sortiert, leert ihre «verwohnte» Wohnung. Dieses schöne, ins Französische unübersetzbare Adjektiv beschreibt den Zustand der Erschöpfung einer Wohnung, die seit 38  Jahren von denselben Personen bewohnt wurde, sehr treffend: müde, ein bisschen außer Atem wie am Ende eines langen Lebens. Frau Soller verschenkt ihre Vorhänge und Bücher. Die Diakonie holt ein paar Möbel ab. «Ach, Frau Soller, alles bleibt an dir hängen!», murrt sie mit sich selbst. Ihr Mann ist viel zu krank, um ihr tatkräftig zur Seite zu stehen. Zwischen zwei Kartons gönnt sie sich eine kleine Pause und kommt zu mir hoch, um mir bei einem Kaffee ihr Leben zu erzählen.
    Frau Soller ist eine wahre Schöneberger Pflanze, die sozusagen meiner Straße entsprossen ist. 1940 in der Entbindungsstation des kleinen Kinderkrankenhauses gleich um die Ecke geboren und im Mai desselben Jahres in der Kirche am Ende unserer Straße getauft, lebte sie mit ihren Eltern und vier Geschwistern in einer Nebenstraße, «da wo jetzt Getränke Hoffmann steht. Das Haus ist neu.» Und sie erinnert sich, als wäre es gestern gewesen, an den Tag, an dem sie in unserer Straße ankam. Es war im Dezember 1972 . In Berlin tobte ein wahnsinniger Sturm. Es wurde eine Warnung herausgegeben: Man sollte das Haus nicht verlassen. An diesem Tag rief die Eigentümerin unseres Gebäudes, eine Bekannte der Sollers, bei ihr an: «Ich habe eine Wohnung für Sie!» Der Mann im ersten Stock war gestorben. «Es kam auf uns zu, und wir haben zugegriffen. Es gab damals große Wohnungsnot in Berlin.»
    Die Sollers ziehen am 8 . Februar 1973 ein. Ihre Wohnung hat nichts mehr von der Beletage, der nobelsten, in der zu Beginn des Jahrhunderts der Bauherr residierte. Sie ist hinter dem Berliner Zimmer entzweigeschnitten worden. Frau Soller versteckt diesen Stummel hinter einem dicken Samtvorhang. Hier bringt sie ihren Krempel unter. Die meisten Wohnungen meiner Straße sind Anfang der dreißiger Jahre auf diese Weise verstümmelt worden. In den Zeiten der Krise und der Inflation kann sich niemand mehr erlauben, sich so fürstlich in sieben Zimmern einzurichten. Die Eigentümer unterteilen sie in Wohnungen mit einem, zwei oder drei Zimmern. Die Grundrisse fallen dabei manchmal etwas unglücklich aus. Man fügt, wo es gerade geht, ein winziges Badezimmer, eine Küche ein, im Flur oder im Mädchenzimmer, das nicht mehr gebraucht wird, da niemand mehr Personal hat.
    In Frau Sollers neuer Straße geht es entspannt zu. Viele Frauen holen ihre Schrippen beim Bäcker im Morgenmantel, Lockenwickler in den Haaren. «Einfach so runter.» Vorbei die Zeit, wo die Hausdamen im Berliner Zimmer 24  Gäste empfingen. Die neuen Mieter wissen nicht so recht, was man mit so einem gigantischen Raum zum Hinterhof mit nur einem Fenster anfangen soll. In meinem Berliner Zimmer lebten damals ein Elektriker, seine blutjunge Frau Edith und ihr Baby. Küche und Badezimmer im «Schwanz», wie man die drei Zimmer im Seitenflügel heute nennt, teilten sie mit dem Baron Luitpold von Barkow, «einem Halbwilden im karierten Mantel». Er nennt seine junge Mitbewohnerin «gnädige Frau»,

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