Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
und es hätte nicht viel gefehlt, er hätte ihr die Hand geküsst, wenn er ihr morgens auf dem Weg zur Toilette im Schlafanzug begegnete. Ich erinnere mich auch, gehört zu haben, dass mein Berliner Zimmer irgendwann eine elektrische Eisenbahn von 2 , 50 auf 1 , 25 Meter beherbergt hat.
Die Wohnungen meiner Straße haben ebenfalls an Höhe eingebüßt. Wer hat noch Lust, mit Deckenhöhen von 3 , 60 Metern zu leben, die unmöglich zu beheizen sind? Die Leisten und Rosetten verschwinden unter heruntergezogenen Decken. Wer hat noch Zeit, sich einmal wöchentlich das Kreuz zu verrenken, um den Fußboden zu bohnern? Die alten Parketts werden versiegelt oder mit Teppichen bedeckt, um die Pflege zu erleichtern, und der Terrazzo der Küchen bekommt einen Linoleumbelag. Die Schiebetüren bleiben geschlossen. Die Wohnung verliert ihre Großzügigkeit.
Und es ist Schluss mit den Wohnungen, die genauso überfrachtet sind wie die Fassaden. Zu der Zeit, als die Sollers in unsere Straße ziehen, finden in Berlin die ersten Sperrmüllaktionen statt. Die Stadtreinigung holt umsonst die Gegenstände ab, die die Bevölkerung loswerden will. Als die Bewohner meiner Straße eines sommerlichen Morgens die Vorhänge aufziehen, sieht der Gehsteig aus, als wäre er mit überproportionierten Maulwurfshügeln gespickt. Vor jedem Haus ein Haufen. Man trennt sich von alten Staubfängern, von Möbeln, die aufwendig zu putzen und viel zu schwer sind, um von der Stelle gerückt zu werden, und darüber hinaus Zeuge einer Epoche, die schließlich nur Unglück gebracht hat. Neues muss her, Leichtes, Plastik, Formica. Anstelle der Brokat-Ohrensessel mit Wildlederimitationen setzt man auf tapezierte Sofas und lose, mit Dralonvelours überzogene Sitze. Anstelle der schweren Rosshaarmatratzen auf Bandscheiben- und Federkernmatratzen. Auf Anbauwände aus Teak, pflegeleichte Nylon- oder Kräuselvelours-Teppichfliesen. Auf modernen Komfort: «Die Vorstellung von der dunklen, feuchten Altbauwohnung, wo die Toilette sich im Treppenhaus befindet und das Bad ein Wunschtraum ist, soll der Vergangenheit angehören. Nach nur drei Stunden kann es einem so gut gehen wie nach einem Urlaub am See», verspricht im
Schöneberger Echo
1973 die Reklame für den Schnelleinbau eines winzig kleinen Fertigbades. Vertikos und Sofas mit Umbau, Nachtschränkchen, goldverschnörkelte Bilderrahmen, Gardinenstangen, alte Armaturen, alte Kleider, ganze Kücheneinrichtungen aus den zwanziger Jahren, Stehlampen mit Trotteln am Schirm, alte ledergebundene Bücher – all das wurde nachts diskret auf den Gehsteig gestellt. Es ist ein wahres Volksfest. Den ganzen Tag flanieren Leute vorbei und durchwühlen den Trödel. Manche tragen die begehrten Möbel auf einer Schubkarre fort. Andere cruisen im Auto die Straße entlang und füllen ihren Kofferraum. Für die WG s der Straße ein Geschenk des Himmels: Ist dieser Biedermeierschrank erst knallrot angestrichen, kann man darin wunderbar die Pullover verstauen. Keinerlei Respekt für das schöne alte Kirschholz. Der größte Fund in meiner Straße: ein intarsiertes Biedermeier-Nähkästchen.
Als Frau Soller in meine Straße zieht, kommt der Briefträger noch zweimal täglich, morgens und mittags. Jeder Hauswart fühlt sich persönlich verantwortlich für die Sauberkeit seines Gehsteigabschnitts und die Sicherheit der Passanten. Bei der ersten Schneeflocke hört man ihn am frühen Morgen schaufeln und streuen. Die Mieter wischen abwechslungsweise einmal wöchentlich das Treppenhaus, eine lästige Pflicht, die inzwischen an eine externe Firma abgegeben worden ist. Es gibt noch eine Drogistin, die sich fühlt wie eine Apothekerin, und eine Apothekerin, die sich fühlt wie eine Ärztin. Es gibt noch einen Seifenladen und ein Haushaltswarengeschäft, die gemeinsam mit ihren überholten Bezeichnungen eingegangen sind, und das kleine Kino beim Parkeingang, das ich so gerne kennengelernt hätte. Im ersten Stock der Nummer 5 befindet sich die Pension Clausius mit ihren sechs verqualmten Fremdenzimmern und einer Genehmigung für Bierausschank. Die Bewohner meiner Straße bringen dort bei Familienfeiern ihre westdeutschen Verwandten unter. Eine einfache Pension, «sauber und ordentlich», geführt von einer Kriegerwitwe, die ständig von einem bellenden Spitz umwedelt wird. Es wimmelt in der Straße von diesen alleinstehenden, ängstlichen Frauen, die ein Zimmer vermieten, vollgestellt von alten Möbeln mit Häkeldeckchen, in dem für
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