Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Dachgeschoss links, zum Abschluss. Die gegenseitige Sympathie stammt aus der Zeit, als die Gattin des Steuerberaters sich bei einem Sturz vom Fahrrad den Fuß brach und wochenlang reglos im Sessel sitzen musste. Frau Soller anerbot sich, für sie einzukaufen. Seit sie voneinander getrennt sind, vergessen die beiden Frauen nie, sich gegenseitig zum Geburtstag zu gratulieren. Eine Karte, ein Blumenstrauß und sogar ein frischer, selbstgebackener Kuchen.
Manchmal dehnt Frau Soller ihren Besuch so lange aus, dass sie abends auf der Treppe den redefreudigen Friseur trifft, der auf dem Weg nach oben ist, ins Dachgeschoss rechts. «Ach, liebste Frau Soller! Sie! Hier! Heute! Was für eine nette Überraschung!» Die beiden umarmen sich auf den Stufen, und ich höre ihr dröhnendes Gelächter. Frau Soller ist in seinem äußerst schicken, in einer Seitenstraße zum Ku’damm gelegenen
Salon
eine bevorzugte Kundin. Als Dank, dass sie während zahlreicher Sommer die dreißig Bonsais auf seiner Terrasse mit klarem Wasser und zärtlichen Worten versorgt hat, offeriert ihr der Friseur lebenslang Haarschnitt, Strähnen und einen großen Cappuccino. Sie braucht nur anzurufen und in seinem
Salon
einen Termin zu vereinbaren, um, wie die Homepage verspricht, eine Frisur zu bekommen, die in vollendeter Harmonie mit ihrer Persönlichkeit steht. Frau Soller fällt es gar nicht leicht, diese berührende nachbarschaftliche Geste zu akzeptieren. Sie verpasst es nie, für die Angestellten einen Streuselkuchen mit Äpfeln aus ihrem Schrebergarten unterhalb des Insulaners und Marmelade für den Friseur mitzubringen, diesen «Süßschnabel, der morgens nicht auf seine Marmelade verzichten kann».
Frau Soller war unsere gute Fee. Sie sah, seit sie 1973 ins Haus eingezogen ist, sämtliche Mieter kommen und gehen und später, als Anfang der neunziger Jahre ein Teil der Wohnungen verkauft wurde, die neuen Eigentümer aufkreuzen. Die Mauer war gefallen, Deutschland war vereint, und Berlin befand sich auf dem Weg der Normalisierung, entwickelte sich zu einem sicheren Standort, um in Stein zu investieren. Es war vorbei mit dieser Insel und ihrer ungewissen Zukunft, eingezäunt und subventioniert, für die «Marktgesetz» ein Fremdwort war. Jetzt werden, so hoffte man, die Immobilienpreise endlich steigen. Die Zuzügler aus «West-Deutschland», wie die Leute meiner Straße die Deutschen vom «Festland» München oder Frankfurt und die Regierungsbeamten aus Bonn nannten, wollten ihr Geld in die noch immer billigen Immobilien der neuen Hauptstadt, der baldigen Metropole anlegen, die es nun mit London, Paris und New York aufnehmen kann. Auch wenn der Immobilienboom ein wenig auf sich warten lässt, beginnt sich doch die soziale Zusammensetzung mancher Häuser in meiner Straße zu diesem Zeitpunkt wieder einmal aufzumischen. Mieter mit bescheidenem Einkommen, oft Rentner oder alleinerziehende Mütter, werden nach und nach durch besser gestellte Eigentümer verdrängt, die stärker von ihren beruflichen Beschäftigungen, ihren sozialen Verpflichtungen, ihren Kindern, ihren Freunden, ihren Geschäfts- und Vergnügungsreisen in Anspruch genommen sind und vielleicht weniger erpicht darauf, Bindungen mit den Flurnachbarn anzuknüpfen.
Wenn einer von uns in den Ferien war, goss Frau Soller, die die Schlüssel sämtlicher Hausbewohner besaß, die Pflanzen, leerte die Briefkästen, fütterte die Katzen, Kanarienvögel, Goldfische und Wüstenmäuse. Als Frankie, die Wüstenmaus der Kinder vom Dritten, die Leiche seines jahrelangen Käfiggefährten Johnnie auffraß, weinte Frau Soller aufrichtige Tränen. Zu ihrer großen Erleichterung hat dieser grässliche kannibalische Akt nicht in den Ferien stattgefunden, als die beiden Tierchen ihrer Obhut anvertraut waren. Von ihrem Balkon herab überwachte sie die Fahrräder, Autos und das Treiben auf dem Gehsteig. Manchmal, wenn man abends nach Hause kam, lächelte sie einem hinter ihren Blumenkästen zu, und dann fühlte man sich von einem sanften Kokon eingehüllt. Ja, Frau Soller war da, man war angekommen, und die Welt war in Ordnung.
Frau Soller war immer da. Treu auf ihrem Posten. Auf sie war Verlass. Sie fuhr nie in Urlaub. Einmal jährlich eine Dampferfahrt auf der Havel mit ihren ehemaligen Kolleginnen vom KaDeWe und gelegentlich eine Tagestour mit dem Bus in den Spreewald. Sie hatte sich so lange um alle gekümmert, dass sich Frau Soller schließlich ein wenig verantwortlich fühlte für das allgemeine
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