Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
und zieht sie auf die Tanzfläche. Das Hochzeitsfest schlägt in ein Bacchanal um. Die Neuvermählten gehen händchenhaltend, eine Nachtmütze auf dem Kopf, unter einem Spitzenbaldachin vorbei. Sie werden gedrückt und umarmt. Man schreit, applaudiert, singt aus voller Kehle, die Augen ekstatisch geschlossen. Die Frauen sind außer Rand und Band. Unter ihren Achseln Haarbüschel, ihre Knöchel in den spitzen Pumps sind geschwollen, die Beehive-Frisuren fallen trotz dicker Lackschicht in sich zusammen. Frau Sollers Strapsgürtel fliegt an die Decke. Die Hochzeitsgesellschaft schunkelt in einer wilden Polonaise um die Tische. Zwei korpulente Alte verkeilen sich einigermaßen erfolgreich zu einem traditionellen Walzer. Und inmitten dieser stürmischen Woge sitzt die Großmutter im schwarzen, knöchellangen Kleid an ihrem Platz. Ich fürchte, dass sie im nächsten Augenblick umkippt und völlig betäubt zwischen die Tänzer auf den Boden plumpst. Doch sie klammert sich mit verängstigten Augen an ihren Stuhl, das Kinn vorspringend, weil die Zähne fehlen, um die Form zusammenzuhalten. Sie ist eine dieser sagenhaften Alten, die in den siebziger Jahren noch Teil der Besetzung aller Familien waren und heute nicht mehr existieren.
Die Liebe zum Feiern zieht sich durch sämtliche Alben der Sollers. Faschingstischrunden mit Papiermanschetten um den Hals, Spitzenhauben und Canotier. Frau Soller, quietschfidel, zwischen ihren Freunden auf einer Holzrutsche eingeklemmt. Es war im Sportpalast, fünf Minuten von meiner Straße, in dem Saal, in dem Joseph Goebbels 1943 seine berühmte Rede über den «Totalen Krieg» hielt. Bis zu seinem Abriss im Jahr 1973 diente er als Veranstaltungshalle «mit buntem Programm», empfing die Wiener Eisrevue, das Sechstagerennen, die Prager Marionetten, das Bockbierfest und im Publikum die Sollers. Die Spielabende in der Wohnung. Frau Soller spielt im Minirock Schubkarren. Eine Freundin hält ihr die Beine, während sie auf den Ellbogen robbt. Mehrere Frauen sitzen im Schneidersitz auf dem Boden. Man kann ihre weißen Höschen sehen. Kurt Soller und seine Freunde, auf die Sesselgarnitur gepfercht, applaudieren. Flamenco, Kasatschok, Sirtaki, Rumba, Twist und French Cancan … Bei den Sollers und beim Reisenden wird getanzt bis zum Umfallen. Weil die Balken durchgängig sind, zittern Decken und Fußböden. Manchmal hämmert der Nachbar vom unteren Stock an die Tür. «Bei uns tickt die Lampe in der Suppe!» «Wir sind eben tanzfreudig!», antworten die Nachtschwärmer und verlegen die Tanzpiste in den Flur. Selbst im KaDeWe wird an jedem Geburtstag gefeiert. Die Regale mit den sorgfältig gefalteten Blusen und Strickjacken werden abgeräumt. Die Lebensmittelabteilung schickt per Rohrpost Brötchen von Lenôtre, Katenschinken und Tilsiter Käse. «Der Tilsiter riecht kräftig. Schmeckt aber gut. Und dann hat man rasch im Stehen gefrühstückt und wieder geackert.»
38 Jahre in derselben Straße. Es zerreißt ihr das Herz, diese Wohnung und mit ihr die Erinnerungen eines ganzen Lebens zu verlassen. Die Goldfische im Aquarium. Der 1966 bei Möbel Missling gekaufte Palisanderschrank mit seiner von einem grünlichen Neonlicht beleuchteten Nische, seinem Nippes, den Fotos der Enkel und den paar Büchern zu historischen Themen. Wie eine Festung, schwarz und gelb gemasert, nimmt er mit seinen drei Metern Länge die ganze Wand in Beschlag. Fünf Möbelpacker wurden herangezogen, um ihn aus dem Gebäude zu reißen wie einen tief verwurzelten Weisheitszahn aus einem Kiefer. Die Nierentische, je kleiner, umso nutzloser. Die Dreifaltigkeits-Garnitur, die in jedes anständige deutsche Wohnzimmer gehört: ein von zwei Sesseln umrahmtes bauchiges Sofa, der terracottafarbene Stoff von den Katzenkrallen gerillt. «Die vierte Garnitur in 45 Jahren! Kann sein, dass sie schon ein bisschen abgenutzt ist», entschuldigt sich Frau Soller. Die Sputniklampe im Wohnzimmer, Ende der sechziger Jahre im KaDeWe erstanden, bei der sich je nach Schaltermodus, den man wählt, 12 oder 24 Kristallkugeln erleuchten. Sie passt aber leider nicht in die neue Wohnung. «Zu wuchtig und zu niedrig gehangen.» Frau Soller versucht vergebens, sie loszuwerden. Die Küchenzeile mit ihren integrierten, pastellfarbenen Möbeln und Schiebetürschränken. Der mit einem Wachstuch bedeckte Formica-Tisch, auf dem Frau Soller gebacken hat.
Eines Morgens, wenige Tage vor dem Umzug der Sollers, als bereits die Maler den Ort usurpiert hatten,
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