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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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pädagogische Mission. Er erlaubte es den Kindern unserer Straße – zum allerersten Mal –, ganz allein, ohne die Straße zu überqueren, etwas einkaufen zu gehen, um dann, unter dem wachsamen Blick ihrer am Fenster stehenden Mütter triumphierend, eine Tüte haltbarer Milch schwenkend, die man nicht wirklich benötigte, zurückzukehren. Der Asia Markt wurde für ein Vierteljahr von einem Teppichhändler abgelöst, der ihn in ein Lager verwandelte. Und dann war Schluss.
    Die Straße ist nach und nach verkümmert. Ich will auf keinen Fall einer verlorengegangenen und folglich besseren Epoche nachtrauern. Nicht einer sentimentalen und letztendlich ungerechten Schwärmerei verfallen. «Damals war alles besser …» Aber meine Straße hat an Charme eingebüßt, und wenn man am Morgen seine Schrippen kaufen will, muss man entweder aufs Rad steigen, um eine passable Bäckerei zu finden, oder sich mit den industriellen Brötchen einer Berliner Bäckereikette an der Straßenecke zufriedengeben.
     
    38  Jahre hat Frau Soller im KaDeWe gearbeitet. Im Kaufhaus des Westens, ihr großer Lebensstolz. Im achten Stock, wo sich die «Abteilung Auszeichnung» für die DOB befindet. Hier wird die von den Fabrikanten gelieferte Ware für den Verkauf präpariert: Wareneingang kontrollieren, Lieferscheine bearbeiten, Etiketts drucken und Preise befestigen. 1998  – vier Jahre zuvor war der Hertie-Konzern, zu dem das KaDeWe gehört, von der Karstadt AG übernommen worden – ist Frau Soller entlassen worden, zwei Jahre vor der Rente, mit einer «Pipifax-Abfindung». Ihr größtes Bedauern. Sie hätte so gern ihr vierzigjähriges Jubiläum gefeiert. «Na ja, hat nicht sein sollen …» Sie erinnert sich noch gut an ihr zehnjähriges Jubiläum. «Ich bekam 600   DM , und das hat für den Führerschein gereicht.» Und erst recht an ihr fünfundzwanzigjähriges. «Ich bekam 1200   DM und ein kaltes Buffet. Die Kollegen blieben nicht sehr lange und tranken nur Orangensaft, weil der Verkauf weiterging.» Der Personalchef hielt eine Ansprache und legte Frau Soller, die in ihrem marineblauen Kostüm, ihrer weißen Strumpfhose und ihrer Spitzenkragenbluse ganz eingeschüchtert war, einen Blumenstrauß, größer als sie selbst, und eine schöne Ehrenurkunde in die Arme. «Frau Bärbel Soller, in besonderer Anerkennung treuer und bewährter Pflichterfüllung.»
     
    Während der Jahre der Mauer, habe ich den Eindruck, hört Berlin nicht auf zu feiern. Es betäubt sich. Meine Nachbarn genießen diese Zeit des Wachstums nach der Tristesse der fünfziger Jahre und versuchen zu vergessen, wie beengt sie auf dieser winzigen exterritorialen, von beiden Blöcken des Kalten Krieges begehrten Parzelle leben. Mein Haus vibriert. Feste, Empfänge, Geburtstage, Fasching folgen aufeinander. Die Fotoalben der Sollers zeigen ein Leben, das einer einzigen Überraschungsparty gleicht. Ihre Hochzeit: Bärbel und Kurt Soller vermählen sich standesamtlich im Rathaus Schöneberg, wie alle Bewohner meiner Straße von vor dem Krieg bis heute. Dieselben Fotos auf denselben Stufen. Nur die Paare wechseln. Lilli und Heinrich Ernsthaft 1922 , Klara und Herbert Fiegel 1929 , Liselotte und Wilhelm Wagner 1942 , Bärbel und Kurt Soller am 1 . Juli 1966 . Vorher Regen. Nachher Regen. Am Hochzeitstag Prachtwetter. Die religiöse Feier findet in der kleinen Schöneberger Dorfkirche in der Hauptstraße statt, in der, einige Jahre später, David Bowie leben wird. Die Kirche ist «von oben bis unten mit Rosen geschmückt». Immerhin an jenem Tag kann Frau Soller ihre Talente ungehindert zur Entfaltung bringen. Die Frischvermählten kommen in der Kutsche angefahren, der Kutscher in Gehrock und mit Zylinder, von zwei Apfelschimmeln gezogen wie in den Prinzessinnengeschichten. Herr Soller, ein schöner, schlanker und distinguierter Mann. Und Frau Soller, die sich ganz zart und errötend hinter einem Bouquet aus Spitzen und weißem Musselin versteckt.
    Das Fest findet im «Schwarzen Ferkel» gegenüber der U-Bahn auf dem Nollendorfplatz statt, wo sich heute eine Pizzeria befindet. Im Album mit dem Titel «Unsere Hochzeit» lange Tische mit den Gästen, an den getäfelten Wänden Gemälde mit Jagdszenen. Es gibt Bier in Humpen und Rotwein. Bärbel und Kurt Soller tauschen einen züchtigen Kuss auf die Wange. Und dann gerät beim Blättern auf einmal alles ins Schwanken. Ein Akkordeonspieler hat sich unter die Gäste gemischt. Ein dicker, jovialer Herr packt die Braut am Arm

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