Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
würden, ihre Liegestühle, Campingtische, Schachspiele, Rosé-Flaschen und ihre abendlichen Gespräche vor ihre Haustür zu bringen. Selbst im Sommer bei großer Hitze bleibt man zu Hause. Das Leben spielt sich im Innern ab. Meine Straße ist introvertiert, auch schamhaft. Keine öffentliche Bank, kein Café, um sich abends auf der Terrasse zusammenzufinden, nicht mal eine Bäckerei, wo man sich jeden Morgen trifft, wenn man das Brot holt. Nur selten bleibt man mit den Nachbarn zum Plaudern auf dem Gehsteig stehen. Die Leute aus dem Haus gegenüber kennt man gerade mal vom Sehen.
Nur wenn an Sommerabenden die Fenster zu den Innenhöfen weit offen stehen, um etwas Kühle hereinzulassen, bekommt man manchmal etwas von der Intimität der großen Wohnungen mit. Georg Haberland, der Erbauer meiner Straße, hatte 1904 eine edle Vorstellung von einem Hinterhof: «Es ist ein besonderes Gewicht auf die Gestaltung der Hofflächen gelegt worden. Die Parzellen sind derart eingeteilt worden, dass alle Freiflächen zusammenliegen und dadurch eine harmonische gärtnerische Gestaltung der Hofflächen möglich ist. So entstanden statt der üblichen gepflasterten, unansehnlichen Höfe im ganzen Bayerischen Viertel gärtnerisch ausgestaltete Höfe.» Die Hinterhöfe meiner Straße waren dieser erhabenen Mission nie gerecht geworden. Meine Nachbarn beschreiben in den dreißiger Jahren einen rein funktionalen Raum mit einer Stange zum Teppichklopfen. Nur am Sonnabend durfte geklopft werden. Die WG s waren die Ersten, die die Hinterhöfe in öffentliche Wohnzimmer unter freiem Himmel verwandelten.
Ich machte mich eines Morgens zu einem methodischen Spaziergang durch die Hinterhöfe meiner Straße auf. Die meisten haben eine völlig zweckmäßige Rolle: Abstellplatz für Fahrräder und Mülltonnen. Einzig in der Nummer 25 – der vorbildlichen Nummer 25 , die sich bereits durch ihren Weihnachtsbaum auszeichnet! – hat man einen kollektiven Garten geschaffen mit Stühlen auf dem Gänseblümchenrasen. In der 26 haben die Mieter aus dem Erdgeschoss einen Dschungel sprießen lassen. Zwischen Mülltonnen und Kellerfenstern schießt dort ein Miniaturtropenwald ins Kraut. Sukkulenten, ein paar Sträucher, ein Kaninchenkäfig und sogar ein Plastikbecken, ein Armenpool, in dem bei großer Hitze einsam ein kleines Mädchen herumplanscht.
Wenn Sie sich einen ganzen Tag in den Hinterhof stellen, dringen Sie in die Intimsphäre einer Straße ein. An die hohen Hauswände, die als Resonanzkörper dienen, prallen Geschirrklappern, Gurgeln, undefinierbare Waschvorgänge, Auslösen von Toilettenspülungen, das Klappern von Besteck auf dem Porzellan, Staubsauger und andere Haushaltsgeräte, Fernsehsendungen und Liebesschreie, die aus den Betten aufsteigen. Ich habe sogar festgestellt, dass die Bewohner meiner Straße ihre täglichen Verrichtungen im Laufe der Jahre synchronisiert haben: Mehrere meiner Nachbarn putzen gleichzeitig die Zähne. Setzt oben einer die Wasserspülung in Gang, packt denjenigen von darunter ein ununterdrückbares Bedürfnis zum Urinieren. Manchmal wird man wider Willen zum Vertrauten. Wenn die hübsche Blonde aus dem Seitenflügel ihren Liebhaber, einen verheirateten Mann, empfängt, bebt man und leidet mit. Alle wissen Bescheid. Es dauert nicht lange, bis der Dialog in Gang kommt:
«Kehr doch zu deiner Frau zurück!»
«Nein, ich habe dir doch gesagt, dass ich dich liebe!»
«Dann verlasse sie!»
«Aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt!»
«Dich interessieren doch nur meine Titten!»
«Nein, ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich!»
Eskalation. Schreie. Besenklopfen an die Decke des unteren Stockwerks, Fausthiebe gegen die Wände in der Wohnung nebenan. Ein Fenster öffnet sich. «Es reicht!» «Schnauze!» Eine Tür schlägt zu. Er geht. Sie jault wie ein Hund, der von seinem Herrchen verlassen worden ist. Ich sehe sie vor mir, in Embryonalstellung auf ihrem Bett zusammengerollt. Das Gesicht tränenüberströmt. Gegen Morgen schläft sie ein. Wenn der Rest der Straße erschöpft aufsteht. Drei Tage später: dasselbe Dekor. Dieselben Darsteller. Dieselbe Szene. Niemand hat je den Mut aufgebracht, die Polizei zu rufen. Stumm hören wir uns das Leid im Seitenflügel mit an.
Diese schmerzliche Liebestragödie hätte unter all dem Straßentratsch das Nonplusultra bedeutet, wäre da nicht das Bordell im Erdgeschoss der Nummer 26 gewesen. Ein Diamant im bescheidenen Schatzkästchen meiner Straße. Wenn sie
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