Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Tinte: «Kein Schöneberg für Bonzen!», «Gegen die Vernichtung bezahlbarer Wohnungen!», «Mieter vor Wildwest schützen!». Wir erfuhren an jenem Morgen, dass das Gebäude mit den 106 günstigen Sozialwohnungen beim Eingang des «Pennerparks» abgerissen werden sollte.
Dieser baufällige Klotz aus dem Jahr 1964 war ein so vertrautes Teil vom Patchwork meiner Straße, dass ich ihm nie große Beachtung geschenkt hatte. Nie habe ich dort jemanden aus- oder eingehen sehen. Manchmal ließ ein vor der Eingangstür stationierter Krankenwagen oder ein Polizeiauto die Dramen erahnen, die sich auf den Stockwerken abspielten. Mehrere Brände waren mit knapper Not verhindert worden. Und man erzählt, es habe eine verwesende Leiche gegeben, die man, als sich im Treppenhaus ein entsetzlicher Gestank auszubreiten begann, aus ihrer Matratze gegraben hat. Ein Nachbar hatte die Feuerwehr benachrichtigt. Niemandem war aufgefallen, dass der kleine Alte aus dem Zweiten seit Wochen nicht mehr zu sehen war. Die Straße machte ein ziemliches Aufhebens davon, malte sich die Einzelheiten aus, würzte noch etwas nach, pfefferte das Ganze, gab eine ausgehungerte Ratte, einen folternden Einbrecher dazu … Wochenlang wurde von nichts anderem gesprochen. Und noch heute lassen sich die Alten nicht lange bitten, um von Anfang an zu berichten, ohne das geringste Detail auszulassen, und gelegentlich eine weitere Episode hinzuzufügen.
Ein gruseliges Haus. Nach und nach verschwanden sämtliche Zeichen eines Innenlebens hinter den kleinen, düsteren Fenstern. Ich glaubte, dass das Gebäude geschlossen worden war. Wie sollte man es wagen, in einem solchen Wrack zu leben?
Der deutsche Bauriese Hochtief AG hatte das Terrain erworben und grünes Licht für sein Bauprojekt bekommen. Die Bezirksverordnetenversammlung, lebhaft unterstützt von einem wirtschaftsfreundlichen Baurat, dem es vor allem darum geht, «die Dinge zu bewegen», hatte dem Abbruch des Gebäudes und dem Bau eines riesigen Eigentumswohnungskomplexes von hohem Standing und einem gesalzenen Quadratmeterpreis zugestimmt, außerdem mit Tiefgarage – für die Anwohner, mehrheitlich militante Radfahrer, der endgültige Beweis für den moralischen Verfall, der bald das ganze Viertel erfassen würde. «Von der Schaffenskraft des Unternehmens zeugen viele bemerkenswerte Projekte auf der ganzen Welt», berichtet die Homepage des Konzerns. «Wir haben den Tempel von Abu Simbel versetzt, am Bosporus Europa und Asien mit einer Brücke verbunden, die Frankfurter Skyline mitgeprägt, die Weiten Australiens per Bahn und Straße durchmessen und den Tunnel unter dem Gotthard errichtet.» Und am Ende dieses grandiosen Katalogs fügt nun Hochtief die Nummer 4 unseres Platzes hinzu. Meine kleine Straße war in den Club der Global Player aufgenommen.
Es wurde von nichts anderem mehr gesprochen. Unserer Straße standen unsichere Zeiten bevor. Ihr plötzlicher Reichtum würde Einbrecher, Fahrrad- und Kinderwagendiebe anlocken! Die dicken Wagen der neuen Eigentümer würden abgefackelt werden. Nachts würden lautlose Gestalten, das Gesicht hinter einem schwarzen Strumpf versteckt, die Wände der «Bonzenzitadelle» mit menschlichen Exkrementen vollschmieren! Unser Platz würde zur Krawallhochburg des 1 . Mai! Zur Zielscheibe von Anarchisten, Autonomen, Extremisten, Globalisierungsgegnern, Sprayern, Randalierern und Rowdys aller Kategorien! Sie würden kommen und die braven Bürger belästigen, das Viertel vandalisieren! Mit unserer friedlichen Existenz, geborgen in unserer Sackgasse, ist es dann vorbei.
In aller Eile wurde eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen und zu einer Kundgebung auf den Stufen des Schöneberger Rathauses aufgerufen. Das Ganze glich eher einem kleinen Menschenauflauf als einer echten Demo. Ein Polizeiauto war, man kann nie wissen, für alle Fälle vor Ort geschickt worden. Ein Ordnungshüter überwachte das Geschehen, einen Becher Latte macchiato in der rechten, ein knisterndes Megafon in der linken Hand und auf den Lippen ein Feierabendgähnen. Auf den Stufen des Rathauses lösten sich mehrere Tribune ab. «Entschuldigung, dass ich auch was sage», begann ein abgelebtes Hippiemädchen. Sie wurde auf der Stelle aus dem Weg geräumt, noch bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte. Es folgte eine junge Frau mit traurigen Augen, die ein Transparent,
Stop violating my house
!, mit dem Foto eines Eichhörnchens, einer Fledermaus und einem Spruch von Mahatma Gandhi schwenkte:
Weitere Kostenlose Bücher