Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
davon anfangen, legen meine Nachbarn stets eine Pause ein. Kosten den Augenblick aus. Sie ziehen den vielsagenden französischen Ausdruck, der so viel erotische Raffinesse evoziert, dem zu kindlichen «Puff» oder dem schnöden «Absteige» vor. «Bordell» bringt die Sinne eher zum Träumen. Meine Nachbarn ergötzen sich, wenn sie sehen, wie sich mein Gesicht verzerrt, mein Mund weit aufgeht, meine Augen kugelrund werden: «Was! Ein Bordell in unserer Straße! Hier! Ach, neee!» Und doch hat dieses Etablissement tatsächlich in unserer so tugendhaften Straße existiert. Meine Nachbarn haben ein anzügliches Tremolo in der Stimme, als sie mir mit dem Stolz eines Filmregisseurs, der sein Casting enthüllt, die «Hauptakteure» vorstellen.
Es handelte sich zunächst nicht um ein eigentliches Bordell. Zwei, drei Nutten, «mehr war da nicht», plus die Chefin, die an Tagen, wo der Andrang groß war, mit aushalf. Sie lebte mit ihrem Mann und Zuhälter und einer riesigen Dogge (oder zwei deutschen Schäferhunden, die verschiedenen Versionen sind sich da nicht ganz einig) in zwei dunklen Räumen im Seitenflügel. Nachts prügelten sie sich oft und weckten den ganzen Häuserblock. Der Fernseher lief von morgens bis nachts auf Hochtouren, und der Alkohol floss in Strömen. Es wird erzählt, bei der Beerdigung des Zuhälters habe einer der Trauergäste eine Flasche Wodka ins Grab geworfen. Sie zersprang auf dem Sarg. «Ein Brauch in der Familie», so scheint es. Einige Wochen später war auch die Frau verschwunden, ohne eine Adresse zu hinterlassen: «In einer Nacht-und-Nebel-Aktion war sie auf und davon.»
Die Einrichtung annoncierte in der Zeitung, und es fehlte nicht an Kundschaft. Hin und wieder irrte sich ein kleiner, ganz verlegener Mann in großer Triebnot in der Etage und klingelte bei einer ehrenwerten Familienmutter im ersten Stock, die ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Auch der Besuch des Klempners ist in den Annalen der Straße verzeichnet. Der unschuldige Handwerker wurde bestellt, um die Dusche zu reparieren. Also klingelte er an der Tür des Bordells. Die Chefin öffnete ihm: «Für wie viel wollen Sie? 50 oder 80 Mark?» «Ich wurde bestellt. Ich suche die Brause», antwortete ihr der Klempner. Manche Mieter des Hauses und sogar der Nachbarhäuser erwogen, eine Mietminderung wegen «Belästigung» zu fordern.
Dann kamen die Asiatinnen. Zierliche, stark geschminkte winzige Frauen, die aus dem Fenster in die Rabatten sprangen, wenn überraschend die Polizei aufkreuzte. Nur mit ihren kanariengelben Spitzenhöschen und einem durchsichtigen Nylon-Negligé bekleidet verschwanden sie wie aufgescheuchte Rehe hinter der Mülltonnenbatterie und machten sich durch das Nachbarhaus aus dem Staub. Es wird auch erzählt, dass die Kunden, mehrheitlich Stammgäste, halbnackt das Vestibül durchquerten, um beim Hauswart ein frisches Bier zu holen. Dieser nutzte seine strategische Lage zu einem rentablen und absolut illegalen kleinen Nachbarschaftsladen. Er verkaufte den Bordellkunden unter der Hand Biere und Spirituosen zu horrenden Preisen. Diese benötigten eine kleine Stärkung, bevor sie sich eine zweite Leibesübung asiatischer Art gönnten, ein kleines exotisches Extra, um danach wieder in ihre beigen Socken und ihre Tergalhose zu steigen, den Hosenschlitz zu verriegeln und pünktlich zum Abendbrot zu Hause einzutreffen. Es wird geraunt, der Hauswart habe sich keine Sorgen gemacht, weil die Beamten vom Rathaus und die Polizisten regelmäßig in der bekannten Einrichtung Station machten.
Sicher gaben sich meine Nachbarn entrüstet, als sie mir das Kapitel vom Bordell erzählten: ein Bordell! In unserer Straße! Welche Schande! Aber die Vibration in ihrer Stimme ist mir nicht entgangen, der Schmerz, den möglicherweise eine ungestillte Sehnsucht hinterlassen hat. Ein Bedauern vielleicht? Einfach zu dumm, dass sie nicht auch einmal, ein einziges Mal diese reizenden, sanften Rehlein in den gelben Tangas bestiegen haben, bevor sie, als die Arztpraxis und die äußerst tugendhafte Schwester Sylvia das Bordell vertrieben, für immer entschwunden sind. Heute klettern abends nur noch die Seufzer des Meditationskreises, der seine Atemübungen macht, das Treppenhaus empor.
Meuterei
Auf einmal ein Ereignis, ein echtes, großes. Auf einmal ist in meiner Straße richtig was los.
Der Vorhang hebt sich eines frühen Morgens. An der Fassade der Nummer 4 des Platzes hängen Jutebanderolen mit zornigen Forderungen in blutroter
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