Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
moniert Ministerialrat Dr. Westphal aus der Nummer 5 , ein hohes Tier, das im obersten Stockwerk wohnt, ein schadhaftes Dachwerk und Pilze im Mauerwerk. Im selben Gebäude wird nach dem Krieg von wiederholtem Brötchendiebstahl berichtet. Das Haus wird nachts nicht geschlossen und ist nicht unter Aufsicht! 1936 schläft der Sohn von Frau Kaufmann aus der Nummer 8 , die ihre Wohnung zum großen Teil vermietet, in einer Dachkammer, die nicht als Wohnraum benutzt werden darf. «Da auch keine Toiletten auf dem Boden sind, sollen auch allerlei Unreinlichkeiten durch den Sohn der Frau Kaufmann und dessen Besucher vorkommen», hält der Denunziant fest.
Meine Straße hat gar ein paar handfeste Wutausbrüche zu verzeichnen. 1947 wird in der Nummer 5 ein Bauführer vom Tapezierer und Dekorateur im Erdgeschoss «schwer beschimpft und tätlich angegriffen». Der Kläger beantragt die «Höchststrafe». 1973 beklagt sich in meinem Haus der zu 90 % schwerkriegsbeschädigte Alfred Konrad, der seit 12 Jahren mit einer gehbehinderten älteren Frau, einem querschnittsgelähmten Schwerkriegsbeschädigten und einem Mieter mit Herz- und Kreislaufbeschwerden auf demselben Stockwerk wohnt, dass der im Gebäude befindliche Fahrstuhl seit mehreren Wochen stillgelegt ist. In der Folge erfahre ich, dass Frau Konrad «viel Wasser im Körper hatte und völlig aufgedunsen ist».
Welches Vergnügen, als die Archivberichte ab den sechziger Jahren von den Erzählungen meiner Nachbarn ergänzt werden. Auf einmal wird das Drama, das das Ehepaar Konrad, in schlechter Verfassung und ohne Fahrstuhl, erlebt, ganz real.
Der Wasserschaden ist ein Klassiker im Leben einer Straße. Einer der spektakulärsten ereignete sich Anfang der siebziger Jahre in meinem Gebäude: Im vierten Stock lebte eine Oberstudienrätin in einer Wohnung mit schadhaften Rohrleitungen. Das Wasser durchtränkte die Decke des Dritten wie einen Schwamm und ergoss sich in den riesigen Bronzekronleuchter im Esszimmer des Zweiten. Der Bronzekronleuchter verwandelte sich in einen Springbrunnen. Zwei weitere Stockwerke wurden in Mitleidenschaft gezogen, und so lebte man ein Vierteljahr, die Heizung lief auf vollen Touren, wie im Tropenhaus, damit es trocknete.
Vor einiger Zeit erhitzte der Markisenkrieg einen Sommer lang die Gemüter. Ein nicht sehr farbenbewusster Wohnungsbesitzer ließ in seiner Loggia eine königsblaue Markise installieren. Sein Nachbar schäumte: «Dieses Haus sieht bald aus wie eine italienische Eisdiele! Das muss man sich mal ansehen! Gestreifte, einfarbige, blaue … Dabei haben wir uns auf der letzten Eigentümerversammlung auf eine zur Fassade passende Harmonie von Gelb und Orange geeinigt!»
Ich weiß nicht, ob die beiden Parteien heute noch miteinander sprechen.
Der Stänkerer braucht ständig neues Futter. Er liegt stets auf der Lauer. Da ist jener, der mir des Nachts inkognito die verwelkte Blume, die ich vom Balkon auf den Gehsteig geworfen habe (ja, absichtlich!), auf die Fußmatte gelegt hat. Ja, weil ich es lächerlich fand, mit den paar abbaubaren Blütenblättern zur Mülltonne zu marschieren. Man kann sich vorstellen, wie er vor sich hin brütete, gegen den schmutzigen Zustand der Straße und meine Unverschämtheit wetterte, sich über seinen anonymen kleinen Racheakt freute und zu seinem Mut beglückwünschte. Da ist jener, der das Kommen und Gehen bei den Mülltonnen ausspioniert und, da bin ich mir sicher, abends den Deckel hebt, um zu kontrollieren, ob die Mülltrennung auch ordentlich vonstatten gegangen ist.
Eine Straße hallt wider von diesen mickrigen Denunzierungen, haltlosen Verleumdungen, nachbarschaftlichen Streitigkeiten, Eifersüchteleien, Fehden zwischen Mietern, von Reklamationen jeder Art. Von diesen Tragödien um Kaugummis, die genau vor dem Eingang eines Hauses auf den Boden gespuckt werden, von diesen Dramen um Hundedreck im Vorgarten. Von diesen Drohungen, diesem «Wenn das nicht aufhört, rufe ich die Polizei!».
Weitere unumgängliche Figur in einer Straße: der Paria. Der Paria und der Stänkerer bilden ein unzertrennliches Paar und ergänzen sich perfekt. Man könnte meinen, der Paria wäre eigens erfunden worden, um die Galle des Stänkerers in Wallung zu bringen. Er muss seine Flaschen unbedingt sonntags zur Zeit der Mittagsruhe in den Container des Hinterhofs werfen, systematisch, eine nach der anderen, indem er sich Zeit nimmt und jedes Mal frohlockt, wenn sie krachend in Stücke geht. Seit
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