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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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den Baumwipfeln. Das gedämpfte Rauschen des Verkehrs. «Que le destin ait voulu que nos chemins se croisent ainsi! C’est un miracle!» (Dass das Schicksal unsere Wege zusammengeführt hat! Es ist ein Wunder!) Wir können es kaum glauben. Wir sind beide ergriffen. «Ich muss Ihnen gestehen, dass es mich rührt, dass Sie Französin sind», sagt John Ron in perfektem Französisch. «Die französische Sprache ist die große und einzige Liebe meines Lebens. Dieses letzte Kapitel kommt völlig unverhofft.» Er hat Angst, mich zu enttäuschen: «Die Ernte der Erinnerungen an meine Straße ist ein bisschen mager. Und außerdem habe ich nur ein gewöhnliches Leben als Französischlehrer an einer amerikanischen Highschool geführt. Ich bin viel herumgebummelt. Ich war kein gut organisierter Preuße. Außer als es darum ging, meine Haut zu retten.» John Ron hat mit seinen 88  Jahren keine Zeit zu verlieren: «Beeilen Sie sich! Ich hoffe, ich halte durch, bis Sie da sind! Dank einer strengen Diät mit allen möglichen Drogen wird Ihnen das Vergnügen vergönnt sein, eine lebende Leiche vor sich zu haben.»
     
    Zwei Wochen später bin ich in Berkeley. John Ron lebt seit dreißig Jahren in einer kleinen Altersresidenz unweit der Martin Luther King Street, von den Taxifahrern MLK genannt. Er hat mir minutiöse Anweisungen gegeben: «Sie klingeln. Sie warten auf das ‹Murmeln› der Tür. Sie wird sich wie durch ein Wunder öffnen. Ping, meine Altenpflegerin, wird Ihnen entgegenkommen.»
    Ping erwartet mich im Vestibül. Eine ganz kleine, strahlende Chinesin von ausgesuchter Höflichkeit. Nach dem Fahrstuhl ein langer dunkler Flur. Ganz am Ende ein viereckiges Licht. Die Tür weit offen. Wen werde ich vor mir haben? Wir haben uns so lange am Telefon unterhalten, dass ich den Eindruck habe, ihn ein wenig zu kennen, ohne ihn je gesehen zu haben, nicht mal auf einem Foto. «Treten Sie ein! Treten Sie ein!» Die Stimme unserer nächtlichen Gespräche. John Ron sitzt in seinem Bett. Er hat den Rücken an ein Mäuerchen aus Kissen gelehnt und eine Wärmflasche auf dem Bauch. Er trägt einen schwarzen Pyjama und auf der Nasenspitze eine Brille. Er hebt den Kopf und ruft: «Ah, da sind Sie ja!» Und es ist, als wären wir gestern erst auseinandergegangen.
    John Ron bedeutet mir mit einem Handzeichen, auf dem nah ans Bett gerückten Rollstuhl Platz zu nehmen. Wir tauschen ein paar Höflichkeiten aus. «Sprechen Sie etwas langsamer, so schnell kann der Alte nicht mehr rennen.» Wir lachen. Es kommt kaum Verlegenheit auf zwischen uns. Schließlich sind wir Nachbarn. Wenn auch mit einem Abstand einiger Jahrzehnte. Er nennt mich «ma chère», meine Liebe, und spricht nur Französisch. Mein «Monsieur» bringt ihn außer sich. Er schlägt John und das «Sie» vor. «Auch wenn ich mich nie richtig wohl gefühlt habe in der Haut von John. Aber Hans-Hugo bin ich schon lange nicht mehr … Wie für viele Juden, ist auch für mich das Leben eine Art Komödie. Ich spiele Verstecken mit mir selbst. Im Grunde habe ich keinen richtigen Namen.» John ist der Vorname eines Sheriffs, eines Apostels, aber sicher nicht der Vorname eines deutschen Juden. Gut, John lässt sich leichter aussprechen als dieses unmögliche Hans-Hugo mit seinen beiden gleich hintereinander, in einem Atemzug auszustoßenden H. John erlaubt es, sich ins Leben hineinzuschlängeln, die Grenzen zu passieren, ohne belästigt zu werden. Und vor allem ist der Name nicht so schwer zu tragen wie dieses Hans-Hugo, das Dr. Rothkugel und seine Gattin sich ausgesucht haben. Ein doppelter Vorname, dafür geschaffen, um wenigstens das Wägelchen eines
Doktor
anzuhängen, besser noch die funkelnde Lokomotive eines
Professor
.
    Die neue Armee Israels ist es, die dem Meteorologen Hans-Hugo Rothkugel während des Befreiungskrieges 1948 / 49 gleichzeitig mit dem Offiziersrang einen neuen Familiennamen gibt. «Rothkugel klang nicht sehr hebräisch. Und Jochanan Rothkugel hinkte. Und so bin ich meinen etwas lächerlichen deutschen Namen losgeworden.» Manchmal fragt sich John Ron, ob er vor seinem Tod nicht wieder seinen ursprünglichen Namen annehmen sollte, um das Andenken an seine Familie zu erhalten. Er ist der letzte Rothkugel. Aber Mister Rothkugel in Amerika … «Nein, nein, das ist nicht seriös! Hier bin ich John H. Ron, ein perfekter Vertreter der amerikanischen
middleclass

    John hat beschlossen, sein Bett nicht mehr zu verlassen. Rechts auf einem Beistelltisch Baudelaires «Die

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