Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
stundenlang an einem kleinen Tisch und betrachtete das Leben um ihn herum. Und wunderte sich, wie schnell die Welt sich verändert hat. Mit der Steifheit eines pensionierten Obersten der British Indian Army und den Höflichkeitschnörkeln, mit denen er die Kellner bedachte, war John unter den über ihren Laptop gebeugten Studenten in Shorts und Flipflops eine anachronistische Figur. Er kam von anderswo. Von einem anderen Kontinent. Aus einer für immer verschwundenen Welt. «Ich bin der letzte deutsche Jude», stellte er manchmal fest. «Eine Kuriosität. Eine seltene Spezies. Auf jeden Fall der letzte Überlebende einer ausgerotteten Sippe.» Eine menschliche Gattung, die die Amerikaner in der Kategorie
Holocaust Survivors
einordnen. Man beachtet sie mit Respekt, manchmal mit Entsetzen, aber niemand interessiert sich noch wirklich für sie. John Ron weiß selbst nicht mehr, wie er in Berkeley gelandet ist. «Ich komme mir vor wie ein Schiffbrüchiger, der sich nicht erinnert, woher das Schiff kam, das ihn ans Ufer gespült hat», sagt er.
Er hatte die verlässliche Gesellschaft von Kurt Tucholsky und Christian Morgenstern der seiner Zeitgenossen vorgezogen. Jeden Nachmittag suchte er die deutschen Schriftsteller im anregenden Halbdunkel der John D. Library unter dem Campanile auf. Mit seiner dicken schwarzen, rechteckigen Brille über die Bücher gebeugt, ließ er das ehrwürdige Interieur auf sich wirken. Die Entdeckung einer seltenen illustrierten Ausgabe machte ihn überglücklich, und er strich mit der Hand über den weichen Ledereinband. Taschenbücher und Neuauflagen konnte er nicht ausstehen, «weil sie nie denselben Zauber haben wie die Originale». Die Bücher waren seine Rüstung gegen die triste Wirklichkeit. Im Inneren der John D. erwartete ihn Deutschland, still und unveränderlich. Das Vor-Hitler-Deutschland.
Bei unserer zweiten Begegnung achtet John darauf, dass sich unser Geplauder in Grenzen hält. «Die Flitterwochen sind vorbei. Was wollen Sie von mir?» Die Frage kommt so brüsk, dass ich zusammenzucke. Aber ich bin erleichtert, dass er sie stellt. Ich hatte mir in den letzten Tagen in Berlin ein wenig Sorgen gemacht: Habe ich das Recht, bei einem so alten Mann all diese Erinnerungen hervorzulocken? Und wie ließ sich der Schmerz in Schach halten, den sie mit Sicherheit auslösen würden? John Ron lebt zurückgezogen in seinem kleinen Apartment, als wäre er froh, dass sein stürmisches Leben endlich der glatten Oberfläche eines großen Wintersees gleicht. Meine Kleinanzeige hat eine gewaltige, vielleicht gefährliche Flutwelle ausgelöst. Seit einigen Tagen steigt die Vergangenheit aus der Tiefe auf. Seine Eltern, seine Onkel und Tanten, seine Nachbarn, seine Freunde aus der Kindheit … So viele Tote, die seine schlaflosen Nächte heimsuchen. John Ron ist in unsere Straße zurückgekehrt. Er lebt wieder in den dreißiger Jahren.
Seit dem Morgengrauen regnet es ohne Unterlass. Ein strammer, lauwarmer Regen. Lange Streifen am hellen Himmel. Die Studenten rennen über den Campus, mehrere unter denselben Schirm zusammengedrängt. Dienstag ist Pings freier Tag. Wir sind allein im Zimmer. Der Regen prasselt an die Scheiben, auf die Hügel ringsum. Die Bucht in der Ferne ist nicht mehr zu sehen. John findet den kalifornischen Regen monoton. Er sehnt sich nach dem dramatischen Himmel von Berlin, wenn nach einem Hitzetag plötzlich ein Sturzregen ausbricht.
Er bittet mich,
would you in the kindness of your heart,
ihm ein zusätzliches Kissen zu bringen. Im Sitzen fühlt er sich besser gewappnet, sich der Vergangenheit zu stellen. Er hat Angst, dass er bei dieser Rückkehr in seine Straße gezwungen sein wird, seit langem fest verriegelte Türen zu inneren Räumen zu öffnen, und dass das, was zum Vorschein kommt, ihn überwältigen wird. Düstere, schaurige Zimmer. Die Vergangenheit, sagt er, hat ihn sein ganzes Leben lang begleitet wie die dumpfe Melodie eines Basses, dessen Ton mit vorrückendem Alter immer tiefer und stärker wurde. Als er jung war, nach dem Krieg, war ihm das Ausmaß der Katastrophe nicht bewusst. Er wollte leben, auf Teufel komm raus. Und vergessen.
Er setzt diesem Ausflug in unsere Straße, den ich mit ihm unternehmen will, seine Grenzen. Bloß nicht ausrutschen. «Ihr Projekt überschattet meine jetzige Geborgenheit. Aber zu dieser späten Stunde meines Lebens spüre ich eine gewisse Verpflichtung meinen Eltern gegenüber, die ich im Grunde kaum gekannt habe. Ihr Buch
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