Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
aus meiner Straße so viele neue Äste sprießen würden. Die vierte und fünfte Generation nimmt auf der Couch Platz.
Ich spüre, dass Miriam Blumenreich sie ein wenig gezwungen hat zu kommen. Diese junge Frau von 43 Jahren und diese drei Jugendlichen haben überhaupt keine Lust, sich Erinnerungen an eine Berliner Straße auszusetzen, in die sie noch nie einen Fuß gesetzt haben. Was für eine komische Idee, müssen sie sich sagen, während sie mich mustern, diesen ganzen Weg auf sich zu nehmen, um ein paar Anekdoten über eine völlig unbedeutende Straße auszugraben. Als Miriam ihre Tochter darauf hinweist, dass sie eine Viertelstunde zu spät gekommen ist, macht sich Nava auf Englisch über ihre Jeckete von einer Mutter lustig: «She is so old-fashioned. (Sie ist so altmodisch.) Sie hat völlig sture Ideen. Wenn ich sie um 6 . 30 Uhr abholen soll, dann ruft sie um 6 . 31 Uhr an: ‹Wo bist du?›» Nava, Minirock und hochhackige Sandalen, sitzt auf dem Sesselrand, als wollte sie gleich wieder aufspringen, und interessiert sich zunächst mehr für die Kratzer auf ihrem Nagellack als für unser Gespräch. Sie klimpert auf ihrem Handy herum. Immer wieder fällt eine Popmelodie in unser verlegenes Gespräch ein. Miriam Blumenreich entschuldigt sie: «Sie hat unmögliche Musik am Telefon. Ein englisches Lied.»
Vor mir sprechen Mutter und Tochter Englisch. Wenn sie unter sich sind, Hebräisch. Miriam Blumenreich bereut es, mit ihren Kindern nicht Deutsch gesprochen zu haben: «Ein großer Fehler. Da war irgendwie eine Hemmung. Unsere Muttersprache ist Deutsch, aber meine Enkel lernen Englisch, Französisch und Arabisch. Es gibt noch viele Leute heute, die kein Deutsch hören können. Warum? Die Sprache hat doch nichts mit den Nazis zu tun. Goethe und Schiller auch nicht.»
Die ganze Familie besitzt einen deutschen Pass. Herbert Fiegel war es, der sich für seine Töchter und deren Ehemänner darum bemüht hatte. Heute sind auch Nava und ihre drei Söhne Deutsche. Eine Vorsichtsmaßnahme. In Israel empfiehlt es sich, zwei Pässe zu haben. Miriam Blumenreich möchte aber doch auf den Unterschied hinweisen: «Ich bin nicht
eingebürgert
. Ich bin
rückgebürgert
. 1958 .»
Miriam Blumenreich erzählt gerne, wie sie ihren zukünftigen Ehemann Wolfgang kennengelernt hat, «auf sehr ulkige Art». Nava und ihre Söhne müssen die Geschichte schon hundert Mal gehört haben.
Nach dem Krieg besucht Klara Fiegel ihren Bruder Walter in Amerika. Walter war Arzt in einem kleinen Dorf an der kanadischen Grenze. Herbert und seine Tochter Miriam nehmen ein Taxi, um sie bei ihrer Rückkehr vom Flughafen in Tel Aviv abzuholen. Doch das Flugzeug hat zwölf Stunden Verspätung. Man kommt mit dem Fahrer, Wolfgang Blumenreich, ins Gespräch. Herbert und Wolfgang sind sich sofort sympathisch. «Zwei Berliner, die beiden hatten sich gefunden!» Wolfgangs Besuche in Kiryat Bialik häufen sich. Er fühlte sich wohl inmitten der intakten Berliner Familie, die sich liebevoll mokierte über diesen in Swinemünde geborenen Ostjuden: «Du bist der einzige Polack in der Familie!», antwortet Herbert Fiegel, als Wolfgang um die Hand seiner Tochter anhält. Ein Rabbiner aus Berlin traut sie. «Er hat keine Faxen gemacht. Er hat die Trauung europäisch gemacht und später eine hübsche Beschneidung für meinen Sohn im Krankenhaus. Nur die Männer waren dabei. Und heute sind alle dabei. So ein großes Tatütata.»
«Mein Mann hatte die Registrierungsnummer 17 600 . 17 600 !» Schweigen. Miriam Blumenreich hat einen grauen Schleier über den Raum gebreitet. Der sich vor diesen Julinachmittag schiebt. Und sich über die auf dem Tisch verstreuten Fotos des Berliner Lebens legt. Nava versteift sich auf dem Couchsessel. «Bei uns dünsten sogar die Wände den Holocaust aus», sagt sie. Sie vergisst ihren Nagellack und ihr Handy.
Als Nava drei war, erkrankte ihr Vater. Mit 47 Jahren hat Wolfgang Blumenreich einen Zusammenbruch. Er wird ins psychiatrische Krankenhaus von Jerusalem eingewiesen. Vegetative Dystonie mit Angstzuständen, diagnostizieren die Psychiater. Miriam Blumenreich besucht ihn einmal pro Woche. Der Psychologe sagt jedes Mal zu ihr: «Er erzählt mir nichts. Das hat keinen Zweck.» Und es klingt wie ein Vorwurf. «Er sprach nicht», bestätigt Nava. «Kein Wort. Wir durften unseren Vater nicht über die Nummer auf seinem Arm ausfragen. Ich bin mit dem Verbot groß geworden, darüber zu sprechen. Also hörst du
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