Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
ist ein wenig das Grab, das sie auf dem Friedhof von Weißensee nicht bekommen haben. Es ist die letzte Gelegenheit, ihren Namen und ihre Geschichte zu erhalten. Ich glaube, sie hätten sich darüber gefreut.»
Hans-Hugo Rothkugel kam 1922 im Schlafzimmer zum Hof zur Welt. Ein Nachzügler. Seine Schwester Ilse ist 1914 geboren. Sein Bruder Paul 1915 . Seine Mutter Irma Rothkugel legt ihr Korsett ab und beschließt, zu Hause niederzukommen und die Brust zu geben. Wenn Dr. Leon Rothkugel abends aus dem Gericht zurückkehrt, deklamiert er über der Wiege Schillers Balladen. Bubi, so nennt man ihn, verbringt Stunden damit, die Reflexe in den rotgeschliffenen Römer-Weingläsern zu betrachten, die auf der Anrichte des Speisesaals aufgereiht sind.
John besitzt nur ein einziges Foto der Straße: Hans-Hugo Rothkugel ist sechs. Er posiert mit leicht zur Seite geneigtem Oberkörper. Er trägt Handschuhe und eine linksgestrickte Bommelmütze. Im Hintergrund ist eine Fassadenreihe zu sehen. Ein Gehsteig. Ein Mann mit Hut, die Hände in den Taschen seines Mantels. Meine Straße im Jahr 1929 . Die Temperatur ist an jenem Tag in Berlin auf minus 25 ° Celsius gefallen. Ein sibirischer Winter.
Hans-Hugo wächst in dieser «von einem soliden Kleinbürgertum bewohnten Straße» auf. Er kann sich an ihre Gerüche erinnern. An den Geruch des «Plätteisens» von Fillipponi, dem italienischen Schneidermeister im Eckgebäude. An den Duft nach Vanillezucker und frischem Mehl des rheinländischen Waffelherstellers, «ein wundervolles Etablissement». An den Dampf von der Mangelmaschine der Frau Kubeth, Bettwäsche-Büglerin. An die Seifenbarren im Kolonialwarengeschäft Gebrüder Kohn an der Ecke. «Und dann gab es auf Ihrer Seite ein Bäckerei-Konditorei-Café», das frühmorgens seinen Duft verströmte. «Nette, einfache Leute … Meine Mutter verstand es, mit allen Bevölkerungsschichten zu sprechen. Sie war leutselig. Leutselig … Welch schönes Wort.» John hält inne, um den Reiz des Adjektivs auszukosten, bevor er zum monumentalen Gewölbe seiner jüdischen Nachbarin Frau De Levie übergeht. «Was für ein herrliches sprachliches Fundstück für einen Popo! Wir verdanken es Erich Kästner: ‹Sie fühlte sich schon zur Hälfte verführt. Und schwenkte vergnügt ihr Gewölbe.›» Und Frau Martens! Streng katholische Inhaberin des Obst-und-Gemüse-Ladens im Erdgeschoss «auf dem Gehsteig gegenüber dem Ihren, links von Ihrem Balkon». Frau Martens nahm den Kleinen sonntags zur Messe mit. Er war begeistert.
«Na, Leonschen, wie jeht et dir?» Die Animierdamen auf der Caféterrasse am Platz küssten mit ihrem großen knallroten Mund den kahlen glänzenden Schädel von Leon Rothkugel, wenn er in den langen Berliner Sommernächten mit seiner Frau auf ein frisches Bier vorbeikam. Hans-Hugo schlief nicht. Er lauerte in seinem Bett auf die Rückkehr der Eltern.
Wenn er von seiner Kindheit spricht, gleitet John ins Deutsche über. Die Portiers in seinem Haus sind für ihn der Inbegriff des Berliners. «Frech und draufgängerisch, mit einem dreckigen Humor.» Frau Schenkel und Herr Schulze lebten in der Loge seines Gebäudes in wilder Ehe zusammen. Offiziell war Herr Schulze Frau Schenkels Onkel. Frau Schenkel gab nicht auf sich acht. Sie war fett wie eine Bratwurst. Bubi Rothkugel nannte sie Frau Oberschenkel. «Der wird det die schon besorjen, Frau Rothkugel!», rief Herr Schulze Irma Rothkugel zu, während sie Hans-Hugos Haare zerzauste.
Einmal pro Woche kam Tante Luzy, Leon Rothkugels jüngste Schwester, zum Mittagessen. Tante Luzy Rothkugel war unverheiratet, hatte rot gefärbte Locken und wohnte zwei Straßen weiter. Wenn man sie nach dem Alter fragte, antwortete sie unveränderlich: 39 . Und sie glaubte, dass alle Männer auf sie scharf waren. «Verheiratete Männer sind für mich wie dicke Milch in Tüten!», verkündete sie eines Abends der Runde, die sich zu einem Empfang bei den Rothkugels eingefunden hatte. Hans-Hugo dachte lange über diesen Satz nach. Tante Luzy lebte in ärmlichen Verhältnissen in einem möblierten Zimmer, aber sie trug die Nase hoch.
Um ins Haus der Rothkugels zu gelangen, musste man beim Portier klingeln. Dann schaute Herr Schulze aus seinem kleinen Fensterchen heraus und öffnete die Tür. Und jedes Mal, wenn Tante Luzy wie immer grußlos an seiner Loge vorbeiging, sagte Herr Schulze zu Frau Schenkel: «Jeden Tach muss ick dem Aas offmachen!» Er wusste, was sich gehört. Schließlich war
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