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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Blumen des Bösen», publiziert im Oktober 1922 vom Verlag Kurt Wolff in München, im Jahr seiner Geburt, «in dieser atemberaubenden Typographie. Falls ich es brauche, liegt das Buch bereit. Das beruhigt mich.» Zu seiner Linken Sirupe, Tropfen, Pillen. Er nennt sie zärtlich «meine kleinen Wunderfläschchen». John streckt den Arm aus, ohne den Oberkörper zu bewegen. Er tastet, streicht über die Umrisse, erkennt die Flakons mit den Fingerspitzen. Er nimmt einen Schluck eines weißlichen Medikaments, das «all diesen kleinen Unannehmlichkeiten beikommen soll, die das Leben schwierig machen». Dann faltet er die Hände über seiner Brust und lässt genüsslich einen Vers von Tucholsky über die Lippen gleiten:
    «Wer viel von dieser Welt gesehen hat
    Der lächelt, legt die Hände auf den Bauch
    und schweigt.»
    Von seinem Bett aus verfolgt John den regelmäßigen Ablauf seiner Tage. Seine Zeiteinteilung sei etwas merkwürdig, sagt er. Er kann nachts schlecht schlafen. Also nimmt er gegen Morgen ein Schlafmittel. Dann döst er bis gegen Mittag. Um 14  Uhr kommt Ping, bereitet den Tee mit Milch und winzige Toastbrotdreiecke zu. Er nennt sie Ping. Ganz einfach Ping. Und es klingt wie der etwas burleske Name einer Heldin von Walt Disney. Ping ist viel besser als
dear Mrs. Ping …
«
Dear
, das riecht nach Herablassung», hat ihm seine Großmutter mütterlicherseits, Anna, beigebracht, die grummelige Gattin des millionenschweren Kaufmanns Benno Cohn. «Meine Großmutter stand nicht in dieser jüdischen Tradition, die mit ihren Brillanten prunkte und das Personal schikanierte. Dafür war sie viel zu preußisch. Sie stand eher für zurückhaltenden Luxus, der nicht viel Aufhebens machte, und für Haltung unter allen Umständen.» Die Hausherrin der stattlichen Wohnung in der Hardenbergstraße  20 neben der U-Bahn-Station Zoologischer Garten wusste, wie man sich an Dienstboten richtet.
    Ping ist von der unerschütterlichen Gelassenheit eines Zen-Meisters. Und die wird von den Wünschen ihres alten Patienten regelmäßig auf die Probe gestellt. Denn Mister Ron ist ein Ordnungsfanatiker. Die Stunden müssen mit der Präzision eines Uhrwerks aufeinanderfolgen. Der Vorhang muss millimetergenau gezogen werden. Mallarmé steht vor Maupassant auf dem dritten Regalbrett. Die akkurate Anordnung der Gegenstände und die penible Einteilung der Abläufe verschaffen John ein wohltuendes Gefühl der Sicherheit. Und Ping gehorcht. «Yes, sure, Mister Ron». Sie huscht lautlos durch das winzige Apartment. Ihre kleinen Füße berühren kaum den Teppich. Stets hat sie ein Lächeln im Gesicht. Mister Ron braucht diese besänftigende Anwesenheit. Er ist in seinem ganzen Leben noch nie so verwöhnt worden. «Es ist wie in einer idealen Ehe», sagt er.
    Ping serviert uns eine Tasse Earl Grey und einen Teller Madeleines. Und John ruft aus: «Ein guter Katholik nimmt eine Hostie zu sich, wenn sein Stündchen geschlagen hat. Bei mir wird es eine Madeleine sein. Wie es sich für einen Französischlehrer gehört!» Um sich sogleich der «Ketzerei» zu bezichtigen. Denn er mag die «unverzeihlichen Längen» bei Proust nicht. John Ron spricht mit Ping ein Englisch, das ausgesprochen höflich und
very british
ist. Er ist nicht bereit, den leicht arroganten, aber doch so eleganten Akzent gegen dieses kautschukartige Gebrabbel der Amerikaner auszutauschen. Er ist überzeugt, dass ihm das Upper-Class-Englisch ein besonderes Flair verleiht. John spricht zu Ping im Pluralis Majestatis: «We do have respectable napkins to honour our guest, don’t we Ping? Wir haben doch bestimmt anständige Servietten zu Ehren unseres Gastes, nicht wahr, Ping? Wir möchten, dass alles ganz reibungslos abläuft!» Ein «wir», das die Symbiose zwischen dem sehr alten Berliner und der Kantonchinesin beglaubigt. Zwei Entwurzelte im großen amerikanischen
Melting Pot
.
    Meine Suchanzeige hatte dieses Leben aus seiner gemächlichen Bahn geworfen: «Ping! Ping! Es ist was passiert. Jemand sucht nach mir.» Als Ping eines Morgens ankam, fand sie Mister Ron in großer Erregung aufrecht in seinem Bett sitzen. Endlich ein Ereignis im eintönigen Leben ihres Patienten, der sein Apartment seit sechs Monaten nicht verlassen hatte.
    Schon eine ganze Weile ist dieser alte Gentleman im marineblauen Blazer, Krawatte, Tweedmütze, bei Regentagen Schirm, unter dem weißen Holzpavillon im Strada, dem Café gegenüber dem Universitätscampus, nicht mehr gesehen worden. Er saß dort

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