Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
sagt ihr Sohn Aviv. Einzig Miriam Blumenreich hat den Zug ins Global Village verpasst. «Den Holocaust kann man nicht evakuieren. Er sitzt in den Knochen», sagt sie. Als sie 1958 zum ersten Mal nach Berlin zurückgekehrt war, fühlte sie sich unbehaglich. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter, als eine Passantin ihrer älteren Tochter über das Haar strich, «Gott, ist sie süüß!». Und 13 Jahre früher, hätte sie sie da auch süüß gefunden? «Ich hab’s im Herzen gedacht, nicht laut gesagt … Wenn meine Mutter heute aufwachen und sehen würde, dass so viele junge Israeli nach Berlin strömen … Sie hätte es nicht geglaubt.» Vor den Deutschen hat sie keine Angst. Sie hat Angst vor den Muslimen. Dass sie Europa erobern. Und sie hat Angst vor den «Schwarzen Frommen», den ultraorthodoxen Juden. Dass sie die israelische Regierung erpressen.
Miriam Blumenreich hat zehn Stunden lang gesprochen, ohne Atem zu schöpfen. Zehn Stunden, um die Reise von der Nummer 3 meiner Berliner Straße, in der sie geboren ist, bis zu ihrer Straße in Kiryat Bialik zurückzulegen. Ihr Deutschland ist heute auf die Dimension eines Fernsehbildschirms geschrumpft. Zweimal die Woche, Montag und Freitag, guckt sie
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. «Mit Begeisterung! Das ist Ehrensache. Da kann sein, was will, ich verzichte nicht darauf! In Israel kommt die Sendung um 21 . 15 Uhr. Dann ist der Abend nicht zu lang.» Sie kennt viele Sprichwörter, die die Gäste nicht mehr kennen, «obwohl sie immer in Deutschland gelebt haben! Neulich spielte eine junge Blondine mit. Ist 20 . Sieht aus wie 14 . So nett, so sympathisch. So würde ich alle Deutschen heute haben wollen.» Abends, wenn die Fenster weit offen stehen, um die frische Luft hereinzulassen, ertönt in ihrer Straße die Stimme von Günther Jauch. Der letzte Traum von Miriam Blumenreich: «Einmal dabei sein bei dem Günther Jauch in einer seiner Sendungen.»
Der Balkon von gegenüber
Für Irma und Leon Rothkugel
«Chère Madame, My name is John Ron, alias Hans-Hugo Rothkugel.»
So beginnt die E-Mail, die ich von dem jüngsten Sohn des Rechtsanwalts und Notars Dr. Leon Rothkugel und seiner Frau Irma, meinen Nachbarn von gegenüber, erhalten habe. «Ich bin ein pensionierter Französischlehrer. Ich bin im Oktober 1922 in Ihrer Straße geboren und lebte dort bis zum April 1934 . Das Schreiben fällt mir heute schwer, dafür ist mein Gedächtnis noch immer gut und könnte für Ihr spannendes Buchprojekt vielleicht nützlich sein. Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören.»
Eine Kaktusreihe auf den Fensterbrettern hindert mich, ins Innere seiner Wohnung zu sehen. Ein unauffälliges Paar bewohnt sie heute. Ich habe nie auf diese Nachbarn geachtet, von denen ich nur die beweglichen Schatten hinter den Scheiben kenne. In einigen Jahren werden die Kastanienbäume so hoch und dicht gewachsen sein, dass sie mir die Sicht versperren. Eine blasse Deckenlampe erleuchtet das Wohnzimmer, in dem einst Dr. Leon Rothkugels Studie «Die Gebührentabellen Rothkugel» entstand, eine schwerverdauliche juristische Schrift. In den Repräsentationsräumen zur Straße war die Kanzlei untergebracht. Irma und Leon Rothkugel, ihre drei Kinder und die beiden Dienstmädchen lebten etwas beengt im Privatbereich des hinteren Teils der Wohnung.
Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, habe ich den Balkon der Rothkugels genau vor mir. An diesen Beobachtungsposten über unserer Straße ist für Hans-Hugo eine glasklare Erinnerung geknüpft. Eine Erinnerung, die durch all die verflossenen Jahre nicht getrübt wurde. Ein Sonntagmorgen im Sommer. Der kleine Hans-Hugo sitzt in der Sonne. Der Himmel ist von einem zarten Blau. In den Blumenkisten Kapuzinerkresse und Petunien. Irma sitzt im Wohnzimmer am Klavier. Es ist die Erinnerung an ein immenses Glücksgefühl. Die Zeit erstarrt wie in Dornröschens Schloss, wenn die Lakaien und Küchenjungen plötzlich bewegungslos werden, die Hand in der Luft innehält, der Mund mitten im Satz weit offen bleibt: ein kleiner Junge in der Sonne, die Beine übereinandergeschlagen, auf einem Balkon über meiner Straße.
Hans-Hugo Rothkugel heißt heute John Ron. Ein angelsächsischer Vorname, ein hebräischer Nachname. Er lebt im kalifornischen Berkeley. Nachdem ich sein Lebenszeichen erhalten habe, rufe ich ihn an. Die Türen meines Balkons stehen weit offen in dieser Sommernacht. Ich höre die hastigen Befehle eines Nachbarn an seinen Hund. Das Säuseln des Windes in
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