Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
auf.»
Wolfgang Blumenreich spricht nicht von seinen Eltern, von seinen Brüdern, von seinem Berliner Leben. Noch weniger von seiner Flucht nach Frankreich, am 3 . Juli 1939 im Rahmen eines Kindertransports. Sein Vater hat nicht mehr genug, um selbst zu fliehen, aber er rettet seine drei Söhne. «Mein Mann war zu jung, um aus dem Haus zu kommen! Er tut mir bitterleid!», sagt Miriam Blumenreich. Ihr Mutterinstinkt ist beleidigt. Seinen Eltern entrissen, die er nie wiedersehen wird, versteckt man ihn auf dem Land im jüdischen Kinderheim von Chabannes im Departement Creuse. Wolfie war von allen Jungen in Chabannes der größte und sportlichste. Am 26 . August 1942 kreuzen am frühen Morgen «die Vichy» auf, wie Miriam Blumenreich die französische Polizei nennt, und nehmen sechs Kinder mit. Wolfie wird in Drancy interniert, danach nach Auschwitz deportiert. Er übersteht dreizehn Selektionen: die Schwächlichen nach links. Die, die noch arbeiten können, nach rechts. Er versteckt sich hinter den Latrinen. Das ist alles, was die Tochter über das frühere Leben ihres Vaters weiß.
Miriam Blumenreich hat die Namen der Konzentrationslager aufgeschrieben, in denen ihr Mann inhaftiert war: Auschwitz, Birkenwald … «Elf konnte ich rekonstruieren. Zwei sind vergessen. In Dachau ist er befreit worden. Mit 20 Jahren, mein Mann hat 38 Kilos gewogen.» Miriam Blumenreich klammert sich an diese Zahlenkolonnen, um nicht zusammenzubrechen, wenn sie den Parcours des Schreckens ihres Mannes rekonstruiert. Die Genauigkeit der Zahlen, ihre mathematische Sachlichkeit sind verlässliche Ecksteine, von weitem auszumachen in der unförmigen Masse dieses langen Schweigens, das Wolfgang Blumenreich nicht zu brechen bereit war.
Nava hat Mühe, ihren Zorn zurückzuhalten, wenn sie daran denkt, wie ihr Vater in den israelischen Krankenhäusern behandelt wurde: «Die hatten überhaupt keine Geduld, keine Freundlichkeit für meinen Vater. Verrückt, nicht verrückt. So behandelt man keine Leute. Diese Leute hatten zwei Kriege hinter sich. Einen mit Deutschland. Zuvor einen in ihrem eigenen Land. Mag sein, dass es heute mehr Verständnis gibt für Menschen mit psychischen Problemen.»
Während des ganzen Eichmann-Prozesses im Jahr 1961 herrscht bei den Blumenreichs der Ausnahmezustand. Die Zeitungen verschwinden. Der Radioapparat bleibt stumm. Wolfgang Blumenreich will nichts sehen und nichts hören. Er will seine Kinder schützen. Stundenlang legen die Überlebenden Zeugnis ab. Sie sind kaum zu bremsen. Ganz Israel hat das Ohr ans Radio gepresst. Wolfgang Blumenreich sitzt niedergeschlagen zu Hause, hinter seinem Schweigen verschanzt. «Er ist vollkommen in sich zusammengefallen», erinnert sich seine Frau. Und als viele Jahre später die amerikanische Serie «Holocaust» im israelischen Fernsehen ausgestrahlt wird, warten Miriam Blumenreich und Nava, bis der Vater im Bett ist, bevor sie den Apparat einschalten. Jeden Abend sitzen die beiden in der Küche. Sie stellen den Ton ganz leise. Schließen die Tür. Sie fürchten, Wolfgang Blumenreich könnte jeden Augenblick hereinplatzen. Alle zehn Minuten geht eine von beiden auf Zehenspitzen zur Schlafzimmertür, um zu lauschen. Es ist alles still. Er schläft.
«Er war nicht im Stande, darüber zu sprechen. Der Schmerz war zu groß. Er hat gesagt, er wolle nicht daran erinnert werden. Dann waren wir in Chabannes, und da, als er von seinen Freunden von damals umgeben war, kam es langsam nach und nach heraus. Auf Französisch.» Nava kann es nicht fassen: «Es ist verrückt, wie man Dinge einfach aus dem Denken verbannen kann.» «Sprechen, immer sprechen …», unterbricht Miriam Blumenreich. «Dieser Exhibitionismus im Fernsehen. Einer hat einen Autounfall, und schon sind die Reporter da und fragen. Man hat auch ein Recht, nicht darüber zu sprechen. Bitte lass mich, das ist mein Privatleben. Warum sollen alle Fremde in unsere Kochtöpfe gucken?»
Wolfgang Blumenreich ist vor fünfeinhalb Jahren gestorben. Vierundfünfzig gemeinsame Lebensjahre, und sie weiß im Grunde nicht viel von den dunklen Jahren ihres Mannes. «Der Holocaust, ist das zu verstehen?» Sie macht eine Pause. «Nein!»
Als Nava im Schwarzwald in den Ferien war, konnte sie nicht anders, als an die im Wald versteckten Juden zu denken. Es war so kalt. «Wir sollten vorwärtsgehen. Man kann nicht die dritte Generation dafür verantwortlich machen.» «Die Welt ändert sich. Wir leben in einem Global Village»,
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