Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
die Schiffe nicht mehr in den Hafen einlaufen. Eine stockdunkle Nacht, nicht mal eine Mondsichel am schwarzen Himmel. Hannah und ihr Vater stehen nebeneinander auf dem Deck, zusammengedrängt wie zwei verängstigte Tiere. Sie erkennen den schwarzen Schatten der Lagerhallen von Brooklyn, die Silhouette der Freiheitsstatue, die ihren kräftigen Arm in den tintenschwarzen Himmel streckt. Genau vor ihnen die Spitze von Manhattan, die Umrisse der Wolkenkratzer und, wie verrückte Glühwürmchen, die Scheinwerfer der Autos. Hannah kommt es vor wie eine Filmkulisse, die sich vor ihren Augen entfaltet. Eugene Kroner macht sich keine Illusionen. Er weiß, was ihn in seinem neuen Leben erwartet. 1936 hat er die Manufaktur eleganter Damenbekleidung, deren Inhaber er war, abgeben müssen: «Es bleiben mir 10 Mark in der Tasche, dabei konnte ich mir mein ganzes Leben lang immer leisten, was ich wollte. Komm, Hannah, wir nehmen unser letztes Abendessen ein. Ab jetzt bin ich ein alter, mittelloser Mann», sagt er, während er seine Tochter in den Speisesaal des Schiffes führt. An jenem Abend servieren die Kellner mit den weißen Handschuhen
a Tomatoe Soup, Boiled Flounder Hollandaise Sauce, Roast Leg of Lamb with Gravy, Brussels Chicory in Cream, Steamed Rice and Boiled Potatoes, Lettuce Salad French dressing, Ice-cream, Vanilla Eclairs, Fruit et Coffee
. Hannah hat die Speisekarte vom 24 . November 1939 aufbewahrt.
Sobald sie sich in ihrem winzigen Apartment in Manhattan eingerichtet haben, kümmern sich die Kroners um das Affidavit für Susanne. Sie kaufen ein Doppelbett für die beiden Mädchen. Alles ist für die Ankunft bereit. Die Kroners haben Mühe, in der neuen Welt Fuß zu fassen. Eugene Kroner wird Vertreter für Bürobedarf. Er kauft sein Material zu niedrigen Preisen bei Woolworth und putzt dann in der 57 th Street die Klinken, um es mit einem mageren Profit an Sekretäre von Kunsthändlern weiterzuverkaufen. «Er war so stolz, die ersten Dollars zu verdienen», erinnert sich Hannah. Elsa Kroner findet eine Arbeit am Fließband. Mit 55 Jahren klebt sie Sohlen an Hausschuhe. Stundenlang dieselbe geisttötende Handbewegung. Aber nie zeigt sie Überdruss: «Wir sind in Amerika, wir sind am Leben, wir haben nicht das Recht, uns zu beklagen.» Hannah zeigt mir zwei Fotos von ihren Eltern. 1922 : Elsa und Eugene Kroner an einem Strand an der Ostsee. Elsa, den Bubikopf vom Meerwind zerzaust, trägt die kleine Hannah auf dem Arm. Eugene, Wohlstandsbauch, kleiner Schnurrbart und ein keckes Lächeln. In den Fünfzigern: Elsa und Eugene Kroner auf der Promenade unter der Brooklyn Bridge. Elsa stützt sich mit kleinem, verzagtem Lächeln auf ihren Mann. Eugene hat seinen Bauch, seine Haare und seine Selbstsicherheit verloren. Auf beiden Fotos legt Eugene Kroner eine Hand auf den Rücken seiner Frau. 1922 eine stolze und beschützende Hand. 1950 eine zögerliche, etwas schlaffe Hand. Das alte Paar klammert sich aneinander in der neuen Welt.
Für Hannah ist die beschützte Kindheit zu Ende. Sie stellt sich in einer Agentur für Tänzerinnen vor. Im Wartezimmer erkennt sie das Mädchen, das ihr gegenübersitzt. Es ist Marion Leiser, ihre Berliner Nachbarin von der anderen Straßenseite. Hannah erinnert sich an einen Regennachmittag. Sie, das Einzelkind, hatte die Stirn an die Fensterscheibe im Esszimmer gedrückt und beobachtete neidvoll die Polonaise, die die Geburtstagsgäste der Tochter im Haus gegenüber gebildet haben. Hannah stand einen langen Moment traurig und reglos hinter den schweren Vorhängen und schaute der Fröhlichkeit auf der anderen Straßenseite zu. Und nun sitzt Marion Leiser, das Nachbarmädchen von damals, ihr auf einmal in dieser Tanzagentur in Manhattan gegenüber. Nach ihrem Bewerbungsgespräch gehen die beiden Berlinerinnen einen Kaffee trinken und beschließen, sich zusammenzutun. Sie werden die Corley Sisters, aus Kroner-Leiser, eine Silbe für jede Person. Sie tanzen in Cabarets. Die Männer liegen ihnen zu Füßen. Die Zukunft vor ihnen. «Eine großartige Zeit!», sagt Hannah, während sie Fotos auf den Tisch legt. « 7 0 Dollar die Woche! 35 Dollar für jede. 25 Dollar für meine Eltern. Es blieben mir noch 10 Dollar zum Leben. Das war beinahe ein Vermögen!»
Eines Tages, als sie in Massachusetts auf Tournee ist, erhält Hannah einen Brief von ihrer Mutter: «Susanne hat eine große Dummheit begangen. Sie hat sich verliebt und geheiratet. Sie haben sich in einer Suppenküche
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