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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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ehemaligen ersten Ballettmeister der Staatsoper, der eine Synthese zwischen klassischem Ballett und Ausdruckstanz versucht. Er kündigt 1930 , eröffnet seine eigene Tanzschule in der Nähe des Lietzensees und ist bereit, jüdische Schüler aufzunehmen. Susanne nimmt Nähstunden. «In meiner Familie gab es nur zwei mögliche Wege», amüsiert sich Hannah. «Man studierte entweder Recht oder Medizin. Da können Sie sich vorstellen, Tanz und Nähen …»
    Als Hannah und ihre Mutter eines Nachmittags wie gewohnt in der Silberterrasse des KaDeWe ihren Tee trinken wollen, versperrt ihnen ein quer über die Treppe gespanntes Schild,
«Hunde und Juden unerwünscht»
, den Weg. (In diesem Augenblick unterbreche ich Hannah. Hunde auch? Sind Sie sicher, beide im selben Topf? – Very sure!!) Sie machen kehrt. Und Elsa Kroner eilt in die Kleidungsabteilung für Damen und kauft ihrer Tochter ein sündhaft teures Kostüm: «Das leisten wir uns noch!», schleudert sie der perplexen Verkäuferin entgegen.
    Dieselben Flurnachbarn, die Hannah am 6 . Dezember einen Schokoladennikolaus auf die Fußmatte gelegt hatten, als sie klein war, brüllen ihnen nun ein «Heil Hitler!» entgegen, er in Uniform, sie mit langen blonden Zöpfen. Mit diesen blonden Zöpfen, von denen Hannah und Susanne träumen. Sie fabrizieren sich Zöpfe aus Wollfäden und Raffiabast und machen sie hinter den Ohren fest. Sie nennen das: deutsche Mädchen spielen.
    Die Lage ist unerträglich geworden. Die Kroners beschließen zu emigrieren. Und Susanne selbstverständlich mitzunehmen. Ein Cousin, der schon vor dem Krieg nach New York gegangen ist, schickt ihnen ein Affidavit. Ohne Affidavit keine Einwanderung in die USA . Jetzt muss nur noch die Immigrationserlaubnis auf dem Konsulat der Vereinigten Staaten abgeholt werden. Vor dem Konsularbüro hat sich eine lange Warteschlange gebildet. Hannah und ihre Eltern reihen sich ein. Susanne ist benachrichtigt worden. Sie trifft außer Atem eine Viertelstunde später ein. Vor Susanne sind zehn Personen an der Reihe. Der Beamte teilt die Gruppe und bittet die fünf letzten, nach Hause zu gehen. Susanne muss ein anderes Mal wiederkommen. Auch Elsa Kroner hätte beinahe umkehren müssen. Als der amerikanische Beamte feststellt, dass Frau Kroner unter hohem Blutdruck leidet, runzelt er die Brauen. Sie lässt sich nicht einschüchtern: «Sir, wenn Sie in Nazideutschland Jude wären, hätten Sie auch einen hohen Blutdruck!» Der Beamte drückt seinen Stempel in den Pass.
    An jenem Abend wird am Esszimmertisch beschlossen, dass die Kroners vorangehen und Susanne ihnen ein paar Wochen später folgen wird. Man setzt das Abreisedatum fest: 15 . November 1939 , der 65 . Geburtstag von Eugene Kroner. Zwei Wochen vor der Abfahrt bekommt Hannah eine Blinddarmentzündung. Onkel Karl, Elsa Kroners Bruder, ist Arzt. Er hatte im Ersten Weltkrieg in einem Lazarett einen jungen Soldaten namens Adolf Hitler untersucht. «Bloß nicht operieren!», ordnet Onkel Karl an. «Sie lassen sie niemals reisen mit einer ganz frischen Wunde.» So verbringt Hannah ihre letzten Tage in Berlin im Bett mit einem Eisbeutel auf dem Bauch. Um die Überfahrt zu bezahlen, verkaufen die Kroners zu einem Spottpreis ihre Möbel. Im Treppenhaus formt sich eine gierige Warteschlange. Der Flügel geht
für’n Appel und ’n Ei
weg. «Was kümmert uns das Klavier, solange wir mit dem Leben davonkommen!», verkündet Eugene Kroner und beißt sich auf die Lippen. Er kauft drei einfache Fahrkarten zweiter Klasse für die
S. S. Rotterdam
und amüsiert sich mit schwarzem Humor über die beiden Initialen, die sie, ihn und seine Familie, in die Freiheit führen werden.
    Mit einem Ozeandampfer über den Atlantik! Der Kapitänsball, das Deck voller Lampions, in den Armen eines jungen Mannes im Smoking herumwirbeln … Hannah und Susanne malen sich die Überfahrt wie in einem Groschenroman aus. Dabei wissen sie eigentlich, dass diese jugendlichen Träume grotesk sind. Diese Reise ist keine Luxuskreuzfahrt, sondern der letzte Versuch, ihre Haut zu retten. Seit zweieinhalb Monaten herrscht Krieg. Hitler hat angekündigt, dass die jüdische Rasse in Europa vernichtet werden wird. Hannah und Susanne gestatten sich trotzdem das Recht, zu träumen, wenn sie sich abends auf der Wohnzimmercouch aneinanderschmiegen. Damit Hannah auf der Tanzpiste glänzen wird, verbringt Susanne die Nächte damit, ihr ein Ballkleid zu schneidern. Sie schneidet den Stoff zurecht, fügt ein

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