Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
lachsfarbenes Baumwollfutter hinzu, bringt die Träger an und rundet das Dekolleté ab. Nachts ist aus dem ehemaligen Dienstbotenzimmer der Kroners das Rattern der Nähmaschine zu hören. Am dritten Morgen öffnet Susanne ganz weit die Tür. Das Kleid liegt auf dem Bett ausgebreitet. «Für wenn du auf dem Schiff bist nach Amerika!»
«Ein schönes Kleid. Ich habe es damals auf dem Schiff getragen. Und später, wenn ich mit meinem Mann ausging. Dann wurde ich schwanger, und es passte nicht mehr.» Hannah verstaute das Kleid mitsamt der Erinnerung an Susanne tief in einem Schrank. Sie musste zu vergessen versuchen, wenn sie fähig sein wollte, in ihrem neuen Leben voranzukommen. Erst viele Jahre später wagte Hannah Susannes Kleid herauszuholen, um es Evelyn zu geben. Aber es ist zu eng und zu kurz für Evelyn, die es an ihre amerikanische Schwiegertochter Courtney weitergibt. Seit dem Tod ihres Mannes ist Courtney jedoch nicht mehr nach Feiern zumute, und so wanderte das Kleid wieder in die Tiefe von Hannahs Schrank zurück. Während wir über Susanne sprachen, hat Hannah mich mit ihrem Blick gemustert. «Das Leben ist merkwürdig, es ist, als ob jemand da oben entscheiden würde …», sagt sie, indem sie die Augen zur Decke hebt. «Es gibt nur eine, die dieses Kleid tragen könnte … Sie! Und ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie es nehmen und dahinbringen, wo es hingehört, in Susannes Straße. Vielleicht werden Sie Gelegenheit haben, es einmal zu tragen und die Erinnerung aufleben zu lassen, die es verkörpert? Bitte, nehmen Sie es …»
«Das Kleid hat die Person überlebt», sagt Hannah, als ich aus dem Badezimmer trete. Ich fühle mich etwas eingeschüchtert in diesem 74- jährigen Ballkleid. Hannah arrangiert die Träger, streicht mit der Hand über die Hüfte, um den Stoff zu glätten. Man müsste es bügeln und ein wenig kürzen. Aber es sitzt perfekt. Ich stehe vor Hannah, mit baumelnden Armen, rundem Rücken, verlegen. «Nein, nein, nein», entrüstet sich Hannah. «So sieht das nach gar nichts aus!» Und sie zeigt mir, wie man die Wirbelsäule gerade hält, einen Fuß ein paar Zentimeter vor den andern stellt, den Oberkörper wölbt und die Hand mit dem stolzen Blick einer Flamenco-Tänzerin auf die Hüfte legt.
So
wird ein Abendkleid getragen!
Hannah betrachtet mich. Tränen steigen ihr in die Augen. Die Tränen einer alten Dame, die ihren Haselnussblick kaum benetzen. «Ein Abendkleid, im Jahr 1939 mit viel Liebe gemacht. Und wenn es einen Himmel gibt, wo Susanne hingehört, so würde sie sich bestimmt heute sehr darüber freuen!» Sie nähert ihr Gesicht dem meinen. Sie spricht jetzt Deutsch. Langsam. Ganz deutlich. Als könnte sie diesen Moment einzig in ihrer Sprache beschreiben: «Und was ich Ihnen jetzt erzählen werde, das werde ich nie vergessen, solange ich lebe. Nie werde ich vergessen, wie ich Susanne zum letzten Mal gesehen habe. Susanne und mein Kindermädchen wollten uns bis ans Schiff nach Rotterdam begleiten. Wir sind gemeinsam im Zug bis zur niederländischen Grenze gereist. Dort betraten meine Eltern und ich eine immense Halle. Wir wurden von oben bis unten durchsucht. Wir mussten uns vollständig ausziehen. Manche Frauen hatten Diamanten in der Vagina versteckt! Meine Mutter weigerte sich, sich so zu erniedrigen. ‹Auf das Leben kommt es an, nicht auf die Diamanten!› Und als wir die Halle verließen, uns entfernten, um die Grenze zu passieren, fing Susanne an zu schreien, ‹Mami! Mami!›. Ganz laut. So laut. Ich höre den Schrei noch immer. Meine Mutter versuchte sich zu befreien und sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, aber mein Vater hielt sie am Ärmel zurück: ‹Wenn du gehst, Elsa, wirst du nach Deutschland zurückkehren, und sie werden dich nicht mehr rauslassen! Wir wollen nicht ohne dich fahren!› Da ist meine Mutter an ihren Platz in der Warteschlange zurückgekehrt. Einige Minuten später öffnete sich das Türchen, und wir waren auf holländischem Boden. Das letzte Bild, das ich von Susanne habe: Sie weint wie ein Kind, in die Arme meines Kindermädchens geschmiegt.» Eugene Kroner versucht seine Frau und seine Tochter zu beruhigen: «Es ist nur eine Frage von Monaten. Susanne wird bald nachkommen.» Als das Schiff den Hafen von Rotterdam verlässt, hängt Hannah das Kleid in den Schrank der winzigen Kabine, die ihnen zugeteilt worden ist.
Als die
S. S. Rotterdam
die Reede vor New York erreicht, ist es bereits finster. Nach 18 Uhr dürfen
Weitere Kostenlose Bücher