Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
kennengelernt. Er heißt Günther Cohn. Er ist polnischer Jude. Das bedeutet», übersetzt Elsa Kroner, «dass Susanne nicht mehr unter die deutsche, sondern unter die polnische Quote fällt.» Als Hannah den Brief sinken lässt, ist ihr klar, dass Susanne verloren ist. Denn für polnische Staatsbürger stehen die Chancen für eine Einwanderung schlecht. Sie wird nie zu ihnen stoßen: «Susanne war so allein in Berlin. Sie brauchte Sicherheit. And when you fall in love, you are not rational. Wir wussten, dass alles aus war.»
Die Bestätigung folgt einige Monate später. Wie ein unentrinnbarer Fluch. Elsa Kroner erhält einen Brief von einer christlichen Freundin aus Berlin. «Sie» haben Susanne am frühen Morgen geholt. Die Freundin erzählt, sie sei in einen Bus gesprungen und dem Wagen gefolgt, der Susanne zum Bahnhof brachte. Dort hat sie gesehen, wie Susanne in einen «besonderen Zug» einstieg. Susanne stirbt, während Hannah in den Cabarets von Massachusetts tanzt. Die beiden Freundinnen sind gerade mal 21 .
«Warum hat es die Kristallnacht gebraucht, um sie wachzurütteln? Ich weiß die Antwort nicht!», sagt Evelyn, als scheitere sie an der Eine-Million-Dollar-Frage, die ihr der Moderator in einem Fernsehquiz gestellt hat.
Vor ein paar Jahren hat Hannah in einem College von Queens eine Ausstellung besucht. Die Listen der Deportierten waren ausgelegt. Man konnte sie einsehen. Sie enthielten den Tag und den Bestimmungsort des Transports und das Todesdatum. Hannah ließ einen Finger über die Seiten gleiten, auf denen die Namen alphabetisch aufgereiht waren. Plötzlich zuckte sie zusammen. Beim Buchstaben C Susanne Cohn, der Name der verheirateten Susanne … «Alles schwarz auf weiß in einem Junior College von Queens! Ich bin rausgerannt und mit meinem Auto gefahren durch die Straßen. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich konnte es nicht fassen, dass sie alles aufgeschrieben hatten, in this typical german order, sodass für die Zukunft alles stand. Wer. Was. Wann.»
Evelyn nennt Susanne ganz vertraut «Sanne», als hätte sie sie gekannt. Hannah muss ihr oft von ihr erzählt haben. Manchmal nimmt Evelyn sogar Hannahs Erzählung vorweg. Sie ist es, die erzählt, dass Sanne für Hannah die Anstandsdame spielen musste. Die Kroners verstanden keinen Spaß, wenn es um die Tugend ihrer Tochter ging. Als Josef Schechter, ihr erster
boyfriend
, ein Violinist, Hannah zum Tanzen ausführt, folgt ihnen Sanne im Auftrag von Elsa Kroner wie ein Schatten. Evelyn muss diese Geschichte hundertmal gehört haben. Und sich hundertmal über die undankbare Rolle der armen Sanne erregt haben, die aus den Augenwinkeln das Schäkern der beiden beobachtete.
Als sich die Dinge in Berlin zuspitzen, bestimmt Frau Kroner, dass ihre Tochter das Verhältnis mit diesem Jungen, der sie heiraten und an der Emigration hindern will, auf der Stelle beendet. Nach dem Krieg wird Hannah erfahren, dass Josef Schechter durch die norwegische Staatspolizei nach Auschwitz deportiert worden ist. «Granny hat stets Intuition besessen», sagt Evelyn. «Sie wusste im richtigen Moment zwischen Leben und Tod zu entscheiden.» Sie sagt das, als hätte sich Granny vor dem Kleiderschrank mit sicherem Händchen zwischen zwei Kleidern entschieden.
In New York heiratet Hannah einen Berliner. «Ein von den Müttern arrangiertes
match
.» Man trifft sich bei Schrafft’s, Broadway Ecke 96 th Street, zum
afternoon tea
. Als Gustav Segal, in seinen Mantel gehüllt, mit geschmeidigem Gang in Erscheinung tritt, ist es, als stiege Cary Grant persönlich vom Hollywood’schen Olymp herab. Gustav Segal ist groß, sportlich, charmant. Ein
sonny boy
. Hannah, 1 Meter 60 und braune Locken, bleibt der Atem stehen. Gustav Segal ist 1936 in New York angekommen. Der Sohn aus guter Berliner Familie hatte ein Faible für große blonde Arierinnen. Zu gefährlich, beschied die Mutter. Also spedierte man diesen
swinging bachelor
auf die andere Seite des Atlantiks. Er sollte den amerikanischen Markt für das Unternehmen seines Vaters erobern, das Leuchtschilder herstellt wie jene, die am Broadway an den Kino- und Geschäftsfassaden blinken. Doch das Unternehmen scheitert an den amerikanischen Gewerkschaften, die gegen das Montieren eines Produkts
made in Germany
opponieren. Gustav Segal ist nicht mehr unbedingt eine gute Partie. Die beiden jungen Leute gefallen einander, aber es bräuchte etwas Zeit, um sich kennenzulernen. Ein Mann für das ganze Leben wird nicht in fünf
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