Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
strenge Mann, erster Berliner Vertreter des illustren Hauses Staedtler, Hersteller von Blei- und Farbstiften, eine Hausdame, die sich um die beiden Kinder, Bruno und Susanne, kümmerte. Als kurz nacheinander auch der Vater und die Hausdame starben und Bruno nach England ging, wo sich seine Spur verlor, blieb Susanne allein als Waisenkind in der großen leeren Wohnung in der Nummer 9 zurück.
Sie ist vierzehn. Hannahs Eltern beschließen, sie zu sich zu nehmen. Sie wohnen gleich um die Ecke, gegenüber der erdrückenden Fassade des Amtsgerichts. Und sie haben Platz. Am Ende des Flurs ist ein Zimmer frei geworden. Als die Juden «keine weiblichen Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren» mehr in ihrem Haushalt beschäftigen dürfen, als ob jeder gute jüdische Familienvater per se lüstern wäre und sich augenblicklich auf sie stürzen würde, müssen sie ihr Zimmermädchen entlassen. Hannah, einem ängstlichen Einzelkind, konnte diese Adoptivschwester nur guttun. Hannah ist froh, dass der Neuankömmling sie ein wenig von der Überbehütung ihrer Mutter ablenkt. Denn Elsa Kroner lässt ihre Tochter nicht aus den Augen. Sie beugt sich aus dem Fenster, wenn die Kleine in die Schule geht, und wenn Hannah mittags nach Hause kommt, sieht sie sie schon von weitem. Ihre Mutter steht wieder da, als hätte sie ihren Beobachtungsposten über der Straße den ganzen Tag lang nicht verlassen.
Susanne gehört nun zur Familie. Einmal wird sie am Weihnachtsabend Zeugin einer eigenartigen Szene. Hannahs Großvater schneit herein, den Deckel einer Zigarrenkiste unter dem Arm. Er stellt sich vor den sechs Fuß hohen Weihnachtsbaum, der mitten im Esszimmer thront. Die Äste biegen sich unter den Kugeln und Lamettagirlanden. Die Pfefferkuchen hängen nicht zu niedrig, damit der Hund sie nicht erreichen kann. Eine einzige Pracht. Der Großvater möchte seiner Enkeltochter einen «Hauch von Judentum» vermitteln. Er weigert sich, sämtliche Traditionen in den «großen Brei» der Assimilation zu schmeißen. «Deine Mutter», sagt er zu seiner Enkelin, «hat einen großen Weihnachtsbaum, und du weißt nicht einmal, dass du Jüdin bist. Komm mal her, ich zeige dir, was du als jüdisches Kind zu machen hast.» Er nahm den hölzernen Deckel seiner Zigarrenkiste, aus seiner Tasche acht Kerzen und steckte sie darauf. «Warum zündet er denn die Kerzen am falschen Ende an? Er nimmt die acht Kerzen und singt mit furchtbarer Stimme:
Ma-os zur je-schu-a-ti.
Ich verstand: Schuhe ausziehen.» Der Großvater sagte: «Man darf sie nicht auspusten. Sie müssen runterbrennen.» Hannah hatte Angst, dass er das Haus in Brand steckt. «Dann nahm er den Hut ab und sagte ganz zufrieden: ‹So, jetzt weißt du, dass du Jüdin bist.› Und ich mittendrin! Zu meiner Rechten der prächtige Weihnachtsbaum, zu meiner Linken die Zigarrenkiste mit den Kerzen und die schreckliche Stimme meines Großvaters. Aber I was good erzogen. Ich sagte nichts. Chanukka hat acht Tage, that is better als die zwei für Weihnachten. Aber trotzdem dachte ich: Ich nehme die zwei für Weihnachten, thank you!»
Das ist der Grund, warum Hannah, als ihre Tochter Evelyn sich viele Jahre später kurz nach Weihnachten mit dem Sohn einer streng konservativen jüdischen Familie verlobt, den Eindruck eines
Déjà-vu
hat. Als die zukünftigen Schwiegereltern zu Besuch kommen, um Bekanntschaft zu schließen, versteckt Hannah in aller Eile den Weihnachtsbaum hinter dem Schreibtisch und wirft eine Decke über ihn. «Was ist jetzt mit uns? Haben mein Mann und ich uns nach der Hochzeit unserer Tochter gefragt. Wir feierten Weihnachten zu zweit in Atlantic City, ohne Kinder und ohne Baum. Es war absurd! Wir haben es fünfzehn Jahre geschafft, zu verhindern, dass der Vater und der Schwiegervater von Evelyn sich begegnen. Doch an der Bar-Mizwa von Ray, Evelyns Sohn, fanden sich die beiden Männer an einem Tisch gegenüber. Und das Erste, was mein Mann zum Schwiegervater meiner Tochter sagte: ‹Wissen Sie was? Wir haben einen Weihnachtsbaum!›» Und seither werden bei Evelyn Weihnachten und Chanukka gleichzeitig gefeiert.
Bald dürfen Hannah und Susanne das Lyceum auf dem Platz nicht mehr besuchen, weil sie Jüdinnen sind. Man rät ihnen dringend, einen Beruf zu erlernen, einen richtigen, den sie nach ihrer Emigration in den Vereinigten Staaten ausüben können. Hannah entscheidet sich für eine Ausbildung als Tänzerin beim Schweizer Choreographen Max Terpis, dem
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